Heimstrasse 52
Durchfall, sage ich, und er sagt: Aha. Immer nur Aha. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so gleichgültig ist. Und jetzt kriegen wir noch ein Kind, und auch das ist ihm egal, völlig egal. Wenn er trinken würde oder mit seinen Freunden um den Block ziehen, wenn er Überstunden machen würde oder spielen, wenn es irgendetwas gäbe, von dem ich sagen kann: Na gut, das ist ihm eben wichtiger als ich. Aber da ist nichts. Er schaut Fußball und liest die Zeitung, aber hat er beides nicht, stört es auch nicht. So einen Menschen kann man sich gar nicht vorstellen, Mama, er lebt wie unter Glas, unberührt von allem.
Ceyda schüttelt den Kopf, gibt sich noch einmal etwas Kölnisch Wasser in den Nacken und sagt dann:
– Er mag keine Nudeln. Stell dir das mal vor, er isst sonst alles, aber er mag keine Nudeln. Was für einen Mann habe ich nur geheiratet? Du hast es auch nicht leicht gehabt, ich weiß, aber er hat sich um dich gekümmert, wenn du krank warst, er wusste, wenn etwas im Haus fehlte, er hat sich für Technik begeistert, er hat ab und zu einfach mal Fragen gestellt, er war irgendwie da, er hat unter dem Auto gelegen und geschraubt, er hat Dinge im Haus repariert, aber ich, ich lebe mit einem Gespenst zusammen. Dass Adem da ist, merke ich daran, dass die Fernbedienung nicht an ihrem Platz ist. Mama, manchmal glaube ich, ich verliere den Verstand, er reagiert überhaupt nicht auf mich oder auf Duygu.
Man hört keinen Ton, lautlos laufen die Tränen aus Güls Augen. Was soll sie sagen, was kann sie schon tun? Was soll werden, wenn sie sich scheiden lassen? Wie soll es Ceyda schaffen, alleine dort drüber mit zwei kleinen Kindern? In einem Städtchen, in dem ihre Schwager, Schwägerinnen und |251| Schwiegereltern leben, in einem Städtchen, in dem sie niemanden hat? Soll sie zu ihrem Vater, der sie nur als Last empfinden würde? Zurück in die Türkei? Was soll sie nun ihrer Tochter raten, wie kann sie ihr eine Hilfe sein? Was sie am liebsten sagen würde, kann sie Ceyda nicht sagen, denn es wäre eine Lüge.
Tu, was du für richtig hältst, überlege gut und handle bedacht, was immer du tust, ich stehe hinter dir und werde dich unterstützen.
Sie steht hinter ihrer Tochter, das tut sie. Doch sie steht da mit leeren Händen.
Was waren das noch für Zeiten, als Fuat beim Militär war und seine Eltern Gül als Dienstmagd missbrauchten. Damals gab es Suzan, die ihr Rat gab, doch wen hat Gül nun? Nun muss sie selber jemand anderem ein starker Rücken sein, wie Suzan es damals für sie war, aber sie fühlt sich hilflos, schwach.
Die Hilflosigkeit und der Schmerz entwinden ihr ein Schluchzen, ein Schluchzen, das Ceyda ebenso wenig vergessen wird wie Gül den Klang des Wortes
Mama
in einem Sommer vor sechzehn Jahren.
Während sie bei Aysel sitzt, ist Gül versucht, von Ceyda und ihren Problemen zu erzählen. Ceyda ist zurück in Deutschland, Aysel kann man trauen, sie würde nicht tratschen. Aber gleichzeitig sind die Worte ihres Vaters in ihrem Kopf: Wenn du nicht möchtest, dass es die Leute erfahren, darfst du es niemandem erzählen. Nicht mal deinem besten Freund. Nicht mal, wenn er auf dem Totenbett liegt.
Als sei Timur immer geschickt gewesen, als hätte er seinen eigenen Rat stets befolgt.
Gül ist versucht, von Mecnun und Ceren zu erzählen, von Fuat, der den Fragen, wann er denn nachkommen wird, immer ausweicht. Bald, bald, nur noch ein paar tausend Mark, |252| nicht mehr lange, wirklich nicht, willst du jetzt ein genaues Datum von mir? Fuat, den dieser Sommer nicht weich gemacht hat wie der vorherige, sondern der seit dem Opferfest nur noch geschimpft hat, was in diesem Land alles schiefläuft, wie sich alle vor der Arbeit drücken, als hätten sie gehört, man könne ins Schwitzen geraten, wenn man zu viel davon verrichtet. Bloß gehört, nie erfahren. Was für ein Chaos hier herrscht, dass es ein Wunder ist, dass es überhaupt Berufe gibt, weil ja eh niemand weiß, wie man sie ausübt. Der Maler nicht malen kann, der Bäcker nicht backen und der Elektriker nichts Besseres weiß, als seinem Lehrling zu sagen, er müsse sich an die Stromschläge gewöhnen, die gehörten nun mal dazu.
Gül möchte erzählen von Mecnun, wie er sich entschuldigt hat bei ihr, dass er so redselig geworden ist am Feiertag, sie möchte reden, um sich freier zu fühlen, leichter.
Wie lange ist sie nun schon mit Aysel befreundet? Und was hat diese Frau ihr nicht schon alles anvertraut. Was hat sie nicht geweint
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