Heimstrasse 52
İlkays Bruder, du kennst ihn doch?
Gül überlegt, ob das eine Anspielung sein soll, ob Aysel etwas ahnt oder gar weiß.
|255| – Ja, ich kenne ihn. Er studiert doch, oder?
– Ja. Er ist ein kluger junger Mann. Alles, was aus seinem Mund kommt, leuchtet ein. Glaubst du nicht auch, Gül? Glaubst du nicht auch, dass Istanbul voller Anatolier ist?
– Ja, sagt sie, ja, wie sollte es auch anders sein. Dieser Mecnun hat wohl recht. Istanbul wird größer und größer, wo sollen denn all die Menschen herkommen? Hat Mecnun dir geraten, dorthin zu gehen?
– Nein. Ich habe nur zufällig mitgehört, wie er über die Stadt gesprochen hat. Ich wollte schon vorher dorthin. Es gibt ja keine Lösung hier.
Gül nickt.
– Ich werde dich vermissen, sagt sie.
Würde jemand jetzt diese beiden Frauen sehen, wie sie fast weinen und dabei strahlen, wie sie den Raum zwischen sich füllen mit etwas, für das es keinen Namen gibt, nicht mal einen Klang, würde jemand sie so sehen, würde bei dem Bild alle Last von ihm abfallen, das Mark seiner Knochen würde Wärme in seinen ganzen Körper verströmen, und Verbundenheit würde sich auf immer anders anhören.
Gül steht vor dem Bild, und ihr Mund geht nicht zu, kein Laut entfährt ihrer Kehle, ihre Augen werden nicht feucht, ihr Herz schlägt nicht schneller, man könnte glauben, dass nichts geschieht. Sibel steht seitlich hinter ihr, und würde Gül sich umdrehen, würde sie sich umdrehen können, dann würde sie sehen, wie unangenehm diese Situation ihrer Schwester ist. Doch sie kann sich nicht bewegen, sie kann nicht mal atmen. Das Bild hat sie eingesogen in eine andere Zeit und lässt sie nun nicht mehr heraus.
Von klein auf hat Sibel gerne gemalt und gezeichnet, wenn sie nicht genug Papier hatte, hat sie die Ränder von Zeitungen benutzt. Und nun als verheiratete Frau ohne Kinder hat sie dem Malen immer mehr Zeit gewidmet, hat sich eine Staffelei |256| gekauft, hat Ölfarben aus Ankara kommen lassen, hat Bilder über Bilder gemalt, die von den wenigen Menschen, die sie gesehen haben, bestaunt und gelobt werden.
Das alles wusste Gül, auch sie hatte einige Bilder gesehen, und sie wird nie vergessen, wie Sibel ihr einmal gesagt hat:
– Das kann man lernen. Man braucht viel Zeit und Geduld, aber mit der Übung kommt man von ganz allein auf einige Sachen. Dieses Pferd hier sieht lebendig aus, fast als könne es jeden Moment loslaufen, oder?
Gül hat genickt und gedacht, dass es ein wenig aussah wie ein Pferd, das ihr Vater mal besessen hat.
– Sieh, hat Sibel gesagt, das ganze Leben ist nur im Auge des Pferdes.
Und sie hat das Auge verdeckt, und Gül musste ihr recht geben, jetzt war es nur noch das Bild eines Pferdes, wie sie es schon oft gesehen hat, und nicht ein Anblick, bei dem man die Hufe schon hören konnte.
Gül wusste, dass Sibel meisterhaft malen kann, doch sie wusste nicht, wie viele Bilder ihre Schwester gemalt hatte. Und was für Motive. Sie hatte Sibel nur besuchen wollen in ihrem Haus am Rande der Stadt. Auf ihr Klopfen hat niemand reagiert, die Tür war nicht verschlossen, und Gül ist einfach hineingegangen. Im Haus hat sie niemanden vorgefunden, doch die Tür zu dem kleinen Hinterhof stand offen, und Gül ist hinausgegangen und hat Sibel in dem Raum gefunden, der früher als Stall gedient hat und dessen Tor zur Straße schon seit langem zugemauert ist.
Gül ist immer davon ausgegangen, dass Sibel und Aziz diesen Raum nicht nutzen, doch er ist voller Bilder, Gül kann nicht schätzen, wie viele es sind, die hier achtlos aneinandergelehnt und übereinandergestapelt sind. Zweihundert? Dreihundert? Mehr?
Auf dem Bild, das Güls Blick fesselt, auf der großen Leinwand, die, wenn man reinkommt, direkt links steht, sieht man |257| eine Frühstücksszene. Auf dem Boden ist gedeckt, Menschen sitzen im Kreis um die Schüsseln mit Marmelade, Butter, Oliven, ein kleines Mädchen steht neben einem Mann, der gerade ausholt, um den Löffel in seiner Hand an die Wand gegenüber zu schleudern.
Je länger Gül bewegungslos vor diesem Bild steht, desto wärmer wird Sibel, sie tritt langsam von einem Fuß auf den anderen und wünscht sich, dass ihre Schwester endlich etwas sagt, weil sie selber das Schweigen nicht brechen möchte.
Gül dreht sich zu Sibel, die beides ist: verlegen und stolz. Und noch verlegener wegen ihres Stolzes.
– Wie … wie hast du das gemacht, Kleine? Wieso …?
– Du hast es uns ja erzählt. Du hast uns erzählt, wie Vater den Löffel
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