Heimstrasse 52
ausstellen und herumzeigen. Ich will nicht, dass irgendjemand etwas darüber sagt. Ich möchte die Bilder nur malen.
Vielleicht hätte ich nie von hier weggehen sollen, denkt Gül.
|260| Wie die Negative der Fotos, die sie früher im Urlaub gemacht haben, sehen die Sommer nun aus. Früher erschienen Gül die Sommer lang, obwohl die Zeit so schnell vorüberging. Sie schienen ihr lang, weil sie so voller Leben waren, sie gingen so rasch vorüber, weil das Glück eben flüchtig ist, weil ein Lachen heller klingt und schneller vergessen ist als ein dunkler Schmerz, der sich in deine Eingeweide frisst.
Doch Gül dachte oft an diese Sommer, die Gespräche, die Sonne, die kühle Abendluft, den Geruch ihrer Schwestern und den ihres Vaters, das Muhen der Kühe, die Äpfel, Maulbeeren und Kirschen aus dem Garten, die Besuche im Hamam, die Stimmen der Kinder, den Staub, der im Sonnenlicht tanzte, die Farbe der Hände, wenn sie Walnüsse von ihrer grünen Schale befreiten, einen Ausruf ihrer Mutter oder auch nur einen Pups, der Nalan entfahren ist in der Küche beim Kochen und alle zum Lachen gebracht hat.
Die Sommer waren ein Garten, der in ihrem Kopf angelegt wurde und in dem sie nach Belieben spazieren ging.
Doch nun sind die Sommer kurz. Auch wenn es viel länger heiß ist, auch wenn Ceren drei Monate Schulferien hat, auch wenn sie nun die ganze Zeit auskosten kann und nicht wieder wegfahren muss. Fuat kommt auf ein paar Wochen, Ceyda, Nalan, Melike, Mert, Emin, die Kinder, alle sind eine Zeitlang da. Aber es scheinen nur einige Tage zu sein, eine Abwechslung, ein Aufatmen, eine Pause. Nun scheint es Gül, als würde da kein Garten mehr angelegt werden, sondern ein Loch ausgehoben. Sobald die anderen weg sind, fällt man hinein in eine Leere, die die Sommer kürzer erscheinen lässt.
So war das also immer für Sibel und meinen Vater, denkt Gül, so haben sie das all die Jahre erlebt. Mit einer Katerstimmung sind sie zurückgeblieben, nicht mit einem Garten voller Erinnerungen, die über den Schmerz der Trennung hinweghelfen.
Ich habe geglaubt, ihr Leben hier würde einfrieren, wenn |261| ich nicht da bin, dabei war ihnen einfach nur kalt im Winter. Ich habe den Sommer genossen wie eine Rosine, und nun weiß ich, wie es ist, den ganzen Teig drumherum zu haben. Unser Leben war nicht unbedingt leicht in der Heimstraße, aber zurückzubleiben ist nicht einfach. Überhaupt nicht einfach.
Ihr Stolz gebietet ihr, weiterhin zu erzählen, dass Fuat nicht mehr lange in Deutschland bleiben wird, er selber aber weicht dem Thema aus, wiegelt ab und schiebt seine Rückkehr in eine unbestimmte Zukunft. Ihr Stolz gebietet ihr, den Schein aufrechtzuerhalten, auch gegenüber Ceren und ihrem Vater, und sogar Gül selber glaubt an eine Rückkehr, was soll sie auch sonst glauben?
Dass er froh ist, sie los zu sein, dass er nun das Leben lebt, das er sich schon immer gewünscht hat, dass sie nicht mehr wert ist als die paar Mark, die er jeden Monat schickt? Dass sie allein alt werden wird und er auch? Dass sie nur im Sommer ihre Enkel gemeinsam herzen werden? Dass man sie einfach so beiseiteschieben kann? Dass Ceydas Probleme sich von selber lösen werden? Fuat kümmert sich mit Sicherheit nicht darum. Fuat, der seine Tochter in Istanbul allein am Flughafen zurückgelassen hat.
Gül glaubt, dass Fuat und sie wieder unter einem Dach leben werden, sie glaubt daran, nicht nur, weil ihr Stolz ihr das gebietet, nicht nur, weil Familien nicht auseinandergerissen werden sollten, nicht nur, weil sie keinen anderen Weg sieht, nein, sie glaubt es, weil sie es fühlt.
Und dieses Gefühl wird recht behalten. Auch wenn Gül nicht ahnen kann, dass es ganz anders kommen wird, als sie es sich vorstellt.
Menschen wie Melike glauben, sie würden ihr Leben selber bestimmen, sie hätten die Fäden in der Hand, weil sie den Menschen in ihrer Umwelt ihren Willen aufzwingen können. Doch niemand ahnt, wohin die Fahrt geht, niemand bekommt |262| sein Schiff auf den gewünschten Kurs, die Winde wehen, wie sie möchten, manchmal sogar rückwärts, und alles, was man tun kann, ist, Korrekturen vorzunehmen. Korrekturen, damit man nicht kentert, damit man sein Gesicht nicht verliert, seine Selbstachtung, die Freude, den Glanz.
Melike ist aus allem ausgebrochen, sie hat studiert, sie hat sich ihren Mann selber ausgesucht, ist nach Izmir gezogen, sie ist nicht abhängig von ihren Eltern und dem Gerede der Kleinstadt, von den Erwartungen der ehemaligen Nachbarn,
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