Heimstrasse 52
ihrer Schwiegereltern wohnte. Als Fuat achtzehn Monate beim Militär war, hatte sie ihn nur gesehen, wenn er Urlaub hatte, ihren Vater hingegen jeden Tag. Als Fuat nach Deutschland gegangen ist, hat sie ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen, doch von ihrem Vater wurde sie erst getrennt, als sie Fuat folgte.
Anderthalb Jahre hat sie ihn nun nicht mehr gesehen.
Ihre Mutter ist schon so lange tot, sie ist die Älteste der Geschwister, und sie hat das Gefühl, dass da nur noch ihr Vater ist, der die Schläge dieses Lebens dämpfen und ihr Halt geben kann. Wenn auch er eines Tages tot ist, wird sie diesem Leben noch schutzloser ausgeliefert sein, dann wird es keinen Rückhalt mehr geben. Das ahnt sie, und daran denkt sie, als sie den Geruch ihres Vaters tief einatmet, nach säuerlichem Schweiß, |64| fruchtbarer Erde, dem billigen Stoff seines Anzugs, dem Eisen, dem Rauch und Ruß des Feuers. Kein Wunder, dass ihr Vater Schmied ist, nirgendwo als bei ihm könnte ihr so viel Wärme bis ins Mark dringen.
Alle fragen Gül, wie es denn dort ist und wie es ihr gefallen hat, und Gül lügt nicht. Sie erzählt, was sie gesehen und erlebt hat, doch die Stunden in der Küche und die vielen Tränen verschweigt sie, der Schmerz und das Heimweh sind nun fast vergessen.
– Man kennt sich nicht aus, sagt sie, mit dem Geld nicht und mit den Preisen auch nicht. Wenn sie Birnen verkaufen, dann ist da ein Schild, auf dem steht, wie teuer sie sind. Und dann kaufst du ein Kilo, bezahlst aber das Doppelte. Ich habe erst nach und nach verstanden, dass die in halben Kilos messen und Halbkilopreise auf ihre Zettel schreiben.
Solche Geschichten hören die Leute gerne und solche über die Sauberkeit der Straßen, die Vorstellung von Asphalt und Ordnung spricht die Menschen an.
Gül verschweigt den Zustand der Heimstraße und auch sonst das eine oder andere, aber Fuat sagt ja auch nicht: Leute, bleibt hier, dort buckelt man sich krumm, da werden Pausen auf die Minute genau eingehalten, und es gibt kein Pardon und keine verlängerten Plaudereien.
Er erzählt nicht den Witz, der unter Ausländern kursiert, wo ein Arbeiter zum Meister kommt und sich beschwert: Chef, Schubkarre gehen immer quietsch, quietsch, quietsch. Und der Meister entgegnet: Nein, nein, in Deutschland gehen Schubkarren höchstens quietschquietschquietsch.
Viel lieber hält Fuat mit seinen alten Freunden nach einem Grundstück Ausschau und schwärmt, was sein Haus alles für Annehmlichkeiten haben wird.
Melike, Güls Schwester, ist die Einzige, die in diesem Sommer genauer nachfragt. Wie das ist mit dem Schichtdienst, wie |65| lange man arbeitet, wie viel man verdient, was die Miete kostet, was ein Brot.
– Was Vater mir schickt, reicht hinten und vorne nicht, sagt sie, ich muss sogar die Zigaretten rationieren. Aber ich möchte dieses Studium beenden. Meinst du nicht, du könntest etwas dazu beisteuern?
– Natürlich, sagt Gül und fragt sich gleichzeitig, wie sie das bewerkstelligen soll. Fuat verwaltet das Geld und würde sagen: Haben wir sonst nichts zu tun, als deine Schwester zu unterstützen, die sich ein lotteriges Studentenleben in Istanbul leistet? Wahrscheinlich geht sie sogar auf die Straße und liefert sich Schlachten mit der Polizei, deine feine Schwester. Das kommt von diesen linken Ideen, davon werden die Leute faul, und das sollen wir unterstützen, solchen Leuten sollen wir den Rücken stärken?
Melike hat nie an Demonstrationen teilgenommen, aber in Fuats Augen ist sie verdorben, weil sie im Zug mit fremden Männern in einem Abteil gesessen und geraucht hat, weil sie in einem Studentenwohnheim wohnt, weil es in der verderbten Stadt so viele gefallene Frauen gibt und so viele Ideen, die das System gefährden.
Noch weiß Fuat nicht, dass Melike sich in einen Sportstudenten verliebt hat, den sie nächstes Jahr heiraten wird. Letztes Jahr im Sommer hat sie ihn hergebracht und ihrem Vater vorgestellt, der der Verlobung seinen Segen gegeben hat. So fortschrittlich wie der Schmied ist Fuat nicht. Eine Frau, die sich aus Istanbul einen Mann mitbringt. Kaum fassbar.
– Natürlich, sagt Gül, natürlich kann ich dich unterstützen, mach dir mal darum keine Sorgen.
Das Schwimmbecken ist vor über vier Wochen gefüllt worden, das Wasser ist schon ganz schlierig. In der Hitze ist bereits so viel verdunstet, dass es nicht mal hüfttief ist.
|66| – Mama, können wir schwimmen gehen?, fragt Ceren.
– Schwimmen? Schwimmen? Reicht es nicht, dass du
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