Heimstrasse 52
schmeißt die Packung auf den Tisch und lehnt sich zurück.
– Kaum fassbar. Da läufst du herum und machst und tust und besorgst deinen Leuten einen Flug nach Hause zu ihren Liebsten, die sie vermissen, du reißt dir ein Bein aus, damit sie nicht mit dem Zug oder Auto fahren müssen, und am Ende bist du immer noch davon entfernt, ein reicher Mann zu sein. Weit entfernt. Ich komme mir vor, als sei ich ein Wohltätigkeitsverein. Flugtickets zu verkaufen ist doch nicht das Wahre. Gerade mal unseren eigenen Flug kriegen wir raus und dafür die ganze Lauferei.
Er schnappt sich einen Kugelschreiber, während Gül gerade Teig für Lahmacun knetet, und füllt einen Lottoschein aus.
– Noch einen?, fragt Gül.
– Ja, noch einen, die Plackerei nützt ja nichts.
– Das ist der vierte Schein heute.
– Und den fünften werde ich auch noch ausfüllen. Das erhöht unsere Chancen. Je mehr du spielst, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass du absahnst. So einfach ist das. Ist nicht wie am Pokertisch. Und Geld, Geld kann man nicht immer nur horten, horten, horten, davon wird es nicht mehr. Was glaubst du, wie ist dieses Land so reich geworden?
Weil die Menschen fleißig sind, könnte Gül sagen, weil sie ihre Zeit nicht mit Glücksspiel verbringen, mit Whisky-Cola |59| und damit, ihr Mofa reparieren zu lassen, das sie im Suff gegen den Stall gesetzt haben, so dass die Hühner vor Schreck vier Tage lang keine Eier mehr gelegt haben.
Sie könnte sprechen, aber wenn sie so schlau ist, könnte sie ja auch ein Buch schreiben. Oder mal den Mund halten.
Doch was soll sie sich aufregen. Auf dem Tisch neben den Lottoscheinen und dem Zettel liegen zwei Flugkarten. Auf beiden steht dasselbe Datum und dieselbe Uhrzeit, auf einer steht Fuats Name, auf der anderen ihr eigener. Sie werden in Hannover ins Flugzeug steigen, und drei Stunden später werden sie in Istanbul aussteigen. Vom Flughafen werden sie ein Taxi zum Busbahnhof nehmen und dann mit dem Bus nach Hause fahren.
Mit dieser Aussicht lässt sich die Sehnsucht ertragen. Mag Fuat Lotto spielen, so viel er möchte. Bald wird Gül mit ihren Töchtern vereint sein, so Gott will, und sie wird sie nicht mehr alleinlassen, nie wieder, bis ihre Töchter irgendwann groß genug sind, um ihren eigenen Weg zu gehen.
Herr, du hast mich am Leben gelassen, wie ich dich gebeten habe, aber ich wollte dieses Leben nicht für mich, was soll das für ein Leben sein, wenn man es nur für sich allein lebt, denkt sie.
Seit sie im Haus ihrer Schwiegermutter in dieses Loch im Keller gefallen ist und Todesangst gehabt hat, hat Gül nicht mehr vergessen, wie kurz die Atemzüge eines Menschen bemessen sein können.
Herr, vereine mich mit meinen Töchtern, und lass mir dieses geliehene Leben, bis ich gehen kann, ohne mich nach ihnen umblicken zu müssen. Herr, wenn es dein Wille ist, werde ich bald meine Töchter sehen.
– Was lächelst du so?, fragt Fuat. Gül nimmt ihren Blick von den Flugkarten.
– Mir ist nur gerade was eingefallen, sagt sie.
|60| Die Brauntöne der Ebene streicheln ihre Augen. Ach, was habe ich das vermisst, denkt sie, das satteste Grün Deutschlands ist nicht so warm wie das tristeste Braun hier.
Im Bus sitzt hinter ihnen ein junges Paar. Aus ihren Gesprächen kann Gül entnehmen, dass auch sie Zeit in Deutschland verbracht haben, noch mehr Zeit als sie, fast zweiundzwanzig Monate, und auch die beiden haben zwei Töchter, die sie zurückgelassen haben, bei der älteren Schwester der Frau. Die Kleine war gerade ein halbes Jahr alt, die Große zwei.
– Nun wird die Kleine schon größer sein als ihre Schwester damals, sagt die Frau.
Je weiter sie fahren, desto mehr spricht sie, je mehr sie spricht, desto weniger Themen hat sie. Seit über einer Stunde malt sie sich nun in allen Farben aus, wie sehr die beiden wohl gewachsen sind und wie es sein wird, sie endlich wiederzusehen.
Fuat hat den Fensterplatz und döst vor sich hin. Gül ist froh, zum einen, weil die Worte der Frau sie ablenken von ihren eigenen Gedanken, und zum anderen, weil die Frau in der gleichen Situation ist wie sie.
Das ist das Gefühl, das einen leben lässt, sich nicht allein zu fühlen. Wissen, dass es noch andere gibt, die gezwungen sind, die Welt vom selben Punkt aus zu betrachten.
Jahrzehnte später wird Gül sagen: Das ist eine gute Sache, dieses Internet, man kann immer Leidensgenossen finden, doch im Moment reicht es ihr vollkommen, die Frau hinter sich zu hören.
Ein Auto überholt
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