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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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hupend den Bus, als es noch etwa eine Stunde Fahrt bis zu ihrer Heimatstadt ist. Kurz darauf hält der Bus am Straßenrand hinter dem Auto, das Gül durch die große Frontscheibe sehen kann.
    – Sie hatten doch gesagt, sie wären am Busbahnhof, sagt die Frau hinter Gül.
    |61| Nein, quiekt es fast, ihre Stimme ist auf einmal zittrig und hoch, und schon läuft sie durch den Gang, während man hört, wie vorne die Tür des Busses aufgeht.
    Aus dem Auto sind ein Mann und eine Frau gestiegen und zwei kleine Mädchen in blauen glänzenden Kleidchen und mit roten Schleifen im Haar.
    Gül reckt den Hals, um besser sehen zu können.
    Die Frau stolpert auf den Stufen des Busses und fällt fast der Länge nach auf die Erde. Ihr Mann, der hinter ihr hergelaufen ist, kann sie gerade noch am Arm fassen.
    Der ganze Bus ist auf einmal unruhig, alle wollen sehen, was nun geschieht.
    Gül steht nicht auf wie einige andere, doch sie kann von ihrem Platz aus sehen, wie die Frau auf die Knie fällt und ihre beiden Töchter gleichzeitig umarmt, sie kann sehen, wie der Rücken der Frau zuckt, und auch ihr kommen die Tränen.
    – Was ist denn los?, fragt Fuat verschlafen.
    Werde ich meine beiden auch so umarmen, werde ich auch so weinen, werden sie Ceyda und Ceren auch so herausgeputzt haben, werde ich überfließen und vergessen, wo mein Körper aufhört.
    – Was flennst du denn? Gül wischt sich die Tränen aus den Augen.
    – Sie haben sie überrascht. Das Paar hinter uns. Sie haben ihnen ihre Töchter mit dem Auto gebracht, sie haben nicht am Busbahnhof gewartet.
    Das ist doch kein Grund zu heulen, könnte Fuat nun sagen. Gül würde es nicht wundern. Er nickt langsam.
    – So ist das Leben, sagt er, zu Hause rechnest du herum, und draußen hast du auf einmal mit anderen Zahlen zu tun. Man weiß nie, was Gott für einen bereithält.
    Gül sieht ihn an. Es macht ihn weich, denkt sie, er würde es nie zugeben, aber es macht ihn weich, nach Hause zu kommen.
    |62| Wer kann schon ahnen, dass in einigen Jahren genau das Gegenteil passieren wird, wenn er in die Türkei kommt.
    Als er vom Tod seiner Frau erfuhr, morgens beim Frühstück, hat Güls Vater den Löffel, den er gerade in der Hand hielt, gegen die Wand geschleudert. Gül war sechs Jahre alt, sie hatte an der Tür gehört, dass ihre Mutter tot war, doch erst als sie die Reaktion ihres Vaters sah und das Geräusch des Löffels hörte, bekam sie eine Vorstellung davon, wie unvorstellbar das Geschehene sein musste. Das Geräusch des Löffels an der Wand wird sie ihr Leben lang nicht vergessen.
    Ein Klang, der ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Aber nicht damit sie schwebt, sondern fällt, ohne je aufzukommen.
    Und sie wird nie wieder vergessen, wie Ceyda
Mama
gerufen hat, am Busbahnhof, bevor sie ihr in die Arme lief.
    Mama.
    Wenn du so schlau bist, dann schreib doch ein Buch, hat Mevlüde gesagt, aber die Worte in den Büchern haben wenig Kraft, weil ihnen der Klang fehlt.
    Mama.
    Vier Buchstaben, aus denen Gül achtzehn Monate heraushören kann.
    Mama.
    Mit einer Stimme, die nicht Ceydas zu sein scheint.
    Mama.
    Ein Klang, der Gül mehr erzählt, als sie im Moment wissen möchte.
    Mama.
    Ich war hier allein, bitte lass mich nie wieder so zurück, ich brauche dich, die kümmern sich nicht gut genug um mich, ich verliere hier den Mut, Mama, was habe ich nur getan, dass du fort bist, Mama, geh bitte nie wieder weg.
    Mama.
    |63| Das alles hört Gül, und es ist nicht wie damals beim Klang des Löffels, dieses Mal begreift sie schneller, was geschehen ist.
    Und doch ist es ist genauso, die Welt tut sich auf, und nirgends ist Halt. Mama.
    Aus den Briefen hat Gül nicht herauslesen können, was los ist. Sie hat sich über die kurzen Sätze gefreut, in denen Ceyda beschrieb, was sie gemacht hatte und wie sehr sie sich nach ihrer Mutter sehnte.
    Es gibt so viele Arten der Sehnsucht, wie hätte Gül die richtige aus den kindlichen Buchstaben herauslesen sollen.
    Es gibt so viele Arten der Sehnsucht, wie hätte Gül nicht die richtige aus der Stimme ihrer Tochter hören sollen.
    Gül weint. Sie weint nicht wie die Frau am Straßenrand. Sie weint auch, als sie Ceren in ihre Arme schließt, die fast nichts mehr mit dem Kind gemein hat, das sich am Fuße der Treppe das Gesicht zerkratzt hat. Sie scheint es etwas leichter gehabt zu haben, denkt Gül.
    Und auch als sie ihren Vater umarmt, weint Gül.
    Jeden Morgen hat sie ihr Vater besucht, nachdem Gül verheiratet war und im Haus

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