Heimstrasse 52
fast ertrunken bist in dem Becken? Hast du das schon vergessen?
– Als würde dich das kümmern, sagt Ceyda, die hinter ihrer kleinen Schwester steht und auch gerne schwimmen möchte.
Gefühle sind wie unsichtbare Menschen. Die Schuld ist heiß und schwer, sie legt sich auf Gül, als wollte sie sie erdrücken. Als Ceyda
Mama
gerufen hat am Busbahnhof, da war die Schuld nicht alleine da, da waren noch viele andere Gefühle, aber nun sitzt Gül dort und sieht ihre ältere Tochter an. Sie kann nicht reagieren. Was hätte sie tun sollen?
Komm, hat ihr Mann gesagt, komm, und lass die Kinder bei meiner Mutter, dort sind sie gut aufgehoben. Komm, wir arbeiten und verdienen Geld, damit die Kinder es mal besser haben als wir. Was ist ihr anderes übriggeblieben? Hat ihr nicht das Herz geblutet, diese anderthalb Jahre in Deutschland? Blutet es bei diesen Worten nicht viel mehr? Hat sie etwas getan, was andere Mütter nicht tun?
– Kommt, sagt sie und zieht zuerst Ceyda und dann Ceren auf ihren Schoß. Ihr seid mein Leben, ihr seid alles, was ich habe, alles würde ich für euch opfern, alles, versteht ihr. Wir gehen bald zusammen nach Deutschland, und dann werde ich euch nie, nie wieder alleinlassen.
Gül wird noch lernen, solche Versprechungen nicht zu machen.
– Für euch, für eure Zukunft, sind wir in dieses Land gegangen, sagt sie, wir wollten euch nicht weh tun und uns selbst auch nicht.
Sie will nicht weinen, sie will ihre Töchter nur halten, so fest, dass sie verstehen.
Später sitzt sie am Rand des Beckens und schaut zu, wie Ceyda und Ceren planschen. Wäre das Becken voll, hätte sie Angst. Wo in dieser Stadt hätte sie schwimmen lernen sollen? |67| Als sie so klein war, gab es keine Schwimmbecken, da haben sie am Bach gespielt, der ihnen höchstens bis zu den Knien ging, wenn sie ihn gestaut hatten.
In Deutschland gibt es Schwimmbäder, das hat sie gesehen, aber warum sollte man schwimmen lernen, wenn man nicht am Wasser wohnt?
Um meine Töchter zu schützen, denkt sie, ich sollte allein deshalb schon schwimmen lernen. Ob es die Schwimmbäder in Deutschland deswegen gibt, weil die Menschen ihre Kinder so sehr lieben?
Sie denkt an Fuat, der schwimmen kann. Er hat es beim Militär in einem See gelernt. Er kann schwimmen, aber hätte er es nur für seine Kinder gelernt?
In fast dreißig Jahren werden Gül und Fuat ein Haus am Meer haben, und Gül wird immer noch nicht schwimmen können.
Am Rande des Beckens isst Gül getrockneten Traubensaft mit Walnüssen. Sie kann nicht genug davon bekommen, sie isst viel, eigentlich den ganzen Tag, all die Sachen, die sie so lange vermisst hat.
Seitdem sie in der Wollfabrik arbeitete, hatte sie etwas abgenommen, aber in den fünf Wochen, die sie dieses Jahr in der Türkei sind, nimmt sie zu, so sehr, dass am Ende des Urlaubs alle Verwandten schon Bemerkungen darüber machen.
Auch Fuat legt zu, indem er jeden Abend nach dem Essen vor einer üppigen Platte kalter Speisen sitzt und sich mehrere Rakı genehmigt, wobei er gerne von Whisky-Cola redet und nicht müde wird zu erwähnen, dass er in Deutschland um diese Zeit auf der Arbeit wäre.
Gül wird dieses Mal nicht wieder mit einem Pappkoffer zurückfliegen, weil sie sich von Unwissenden hat erzählen lassen, dass es in Deutschland alles gibt. Sie wird getrockneten Traubensaft mitnehmen, Paprikamark, rote Linsen, Weizengrütze, Tarhana, einen gewürzten getrockneten Teig, aus |68| dem man Suppe macht. Sie werden zwanzig Kilo Übergepäck haben, Fuat wird sich aufregen. Reicht es nicht, dass wir uns in Deutschland schiefbuckeln, müssen wir auch noch mit tonnenschweren Koffern reisen, wird er sagen. Doch er wird stolz auf sich sein, weil er am Flughafen nach einer endlos langen Diskussion und einem kleinen Taschengeld offiziell nichts nachzahlen muss.
Gewieft muss man sein, und seine Freude darüber, den Regeln ein Schnippchen geschlagen zu haben, wird stärker wiegen als der Ärger über seine wie für Notzeiten hortende Frau.
Zurück in Deutschland, wollen Fuat und Gül ihre Schichten so koordinieren, dass immer jemand zu Hause ist, der auf die Kinder aufpassen kann. Doch schon nach wenigen Vormittagen, die Fuat mit Ceren verbringt, sagt er:
– Das geht so nicht, wir brauchen eine andere Lösung, ich kann nicht meine Zeit mit so einem kleinen Kind verbringen. Sie hört nicht auf mich, tut nicht, was ich sage, und möchte dauernd etwas anderes. Ich bin ein erwachsener Mann, ich kann nicht den halben Tag
Weitere Kostenlose Bücher