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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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aus, die ungesagt bleiben, und lächelt in sich hinein, weil Ceyda und Ceren auf der Straße spielen, ohne etwas abzukriegen, aber irgendwann hat auch sie genug.
    – Es ist doch deine Schuld, sagt sie, dass ich so dick bin.
    |142| Fuat schaut sie an, erstaunt darüber, dass sie auf einmal Widerworte gibt, und noch erstaunter über die Anschuldigung, die er nie zuvor zu hören bekommen hat. Noch bevor ihm eine Antwort einfällt, sagt Gül:
    – Du bist doch mit dieser Pille angekommen, hier ich hab was für dich, da müssen wir nicht mehr aufpassen. Ohne dass ich bei einem Arzt gewesen wäre, von diesen Pillen bin ich so auseinandergegangen, von diesen Hormonen oder was das ist. Wer weiß, wo du die Dinger herhast. Und überhaupt, kann ja sein, dass du keine dicken Frauen magst, kann ja sein, dass du eine schlanke blonde willst. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich mag Männer, die Haare auf dem Kopf haben und nicht solche mit Glatze. Man kann sich eben nicht immer aussuchen, was man bekommt. Hörst du, Männer mit Haaren!
    Fuat hebt sein Glas ruckartig in die Höhe, doch er holt nicht aus. Gül steht vor ihm und sieht ihm ins Gesicht, und bevor aus der Niederlage, die sie dort sehen kann, eine Katastrophe werden kann, verlässt sie das Zimmer.
    Später an diesem Abend wird Yılmaz zu Fuat sagen:
    – So gefällst du mir, langsam lernst du zu trinken, mein Freund, einfach nur still sein und genießen und nicht mit jedem Schluck lauter werden.
    Und Saniye wird zu Gül sagen:
    – Es ist besser, wirklich. Der eine hat getrunken und geprügelt und dieser hier trinkt nur. Gott bewahre, aber wenn ich nochmals heiraten sollte, dann gibt der Herr mir vielleicht einen Mann, der beides nicht tut. Aber wer weiß, was der dann für Fehler hat. Einer wie Serter, der nicht mehr alle beisammenhat, ist ja auch nicht wünschenswert. Die Lahmacun sind wirklich hervorragend geworden, mögen deine Hände immer gesund bleiben.
    Und Fuat wird nie wieder etwas über Güls Figur sagen. Und Gül nichts über seine Glatze. Frauen stehen vor dem Spiegel und begutachten ihre neuen Kleider oder schminken |143| sich, aber es sind die Männer, die ihre Eitelkeit verletzlich macht.
     
    – Das ist doch kein Telefon, sagt Ceyda, wo sind denn da die Zahlen?
    – Das hier hat keine, antwortet Fuat.
    – Wie, das hat keine? Man kann also nur angerufen werden?
    – Wen soll dein Opa schon anrufen, sagt Gül, wer sonst hat denn hier ein Telefon?
    Fuat sieht Gül an und schüttelt den Kopf.
    – Er kann auch anrufen. Du kennst doch diese alten Schwarzweißfilme, Ceyda, wo Frauen vor einem Haufen Kabel sitzen und Gespräche verbinden, sie stöpseln ein, sie stöpseln aus, und sie melden sich mit: Hier ist die Zentrale. Du kennst doch diese alten Filme?
    Ceyda nickt.
    – Und dies hier ist ein altes Telefon. Wenn Opa die Kurbel dreht, geht jemand vom Postamt ran und fragt, wen er sprechen möchte. Dann steckt jemand die Kabel um. Das ist noch nicht vollautomatisch wie in Deutschland.
    – Und für jeden, der ein Telefon hat, gibt es ein eigenes Kabel?
    – Nein, das ist ein ganz kompliziertes System, damit man nicht so viele Kabel braucht. Ganz kompliziert, ich kann es dir vielleicht erklären, wenn du älter bist. Wenn wir wieder in Deutschland sind, werden wir mit Opa telefonieren können, das geht ja schneller, als immer auf Briefe zu warten. Du weißt, dein Opa kann keine Briefe schreiben, er kennt die lateinische Schrift nicht. Er muss sie schreiben lassen. Mit dem Telefon wird die Welt kleiner werden, wir brauchen drei Tage mit dem Auto bis hierher, aber das Telefon überträgt die Worte sofort. Es wird so sein, als wären wir Nachbarn. Du wirst sehen, dieses kleine Ding mit der Kurbel wird so viel verändern …
    |144| Gül wird bald nicht mehr mit ihren Töchtern zusammensitzen und ihnen Briefe vorlesen, die ihr Vater diktiert hat oder die ihre Schwestern geschrieben haben. Man wird die Sätze nicht wieder und wieder lesen können, um auch noch die letzte Silbe auszukosten, man wird nicht mehr die Zeilen in der Tasche tragen können, um sie in der Mittagspause nochmals zu lesen, um neue Kraft für die Arbeit zu schöpfen. Wie immer wird sich alles verändern.
    Gül freut sich, dass sie ihren Vater jetzt so erreichen wird. Worte stillen die Sehnsucht, deswegen all die Briefe, deswegen die Zeilen der großen Dichter, Worte verbinden die Menschen, mindern die Last der Herzen. Und welche Worte könnten direkter sein als die gesprochenen, was kann

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