Heimstrasse 52
bereits anhört, dass sie etwas ausgefressen hat, und diese Art, einfach schweigend stehen zu bleiben und zu warten, bis ihre Mutter fragt:
– Was gibts? So schlimm wird es schon nicht sein, oder?
– Ich habe … Ich habe die Antenne vom Fernseher kaputtgemacht. Wir haben im Wohnzimmer getobt, und dann bin ich irgendwie drangekommen, und sie ist kaputtgegangen.
Gül geht zum Spülbecken, um sich ihre Hände zu waschen, ihr ist, als könnte sie mit sauberen Händen besser denken. Wann und wie soll sie es Fuat sagen?
– Sorg dich nicht, wir finden eine Lösung. Habt ihr den Fernseher schon angemacht?
– Ja, das Bild ist total verschneit.
Soll sie es vor dem Einkauf sagen? Dann wird er den ganzen Einkauf über wettern. Aber vielleicht können sie dann eine neue Antenne besorgen.
– Lass mal sehen.
Gemeinsam gehen sie aus der Küche, aber noch bevor sie durch die Tür sind, spürt Gül, dass etwas nicht stimmt. Sie spürt es, wie sie geträumt hat, dass Ceren ertrinkt, sie spürt es, wie sie in einigen Jahren spüren wird, dass Ceyda Angst hat, den Verstand zu verlieren, obwohl sie viele Kilometer voneinander entfernt sein werden. Sie spürt es, dazu bedarf es keiner Fähigkeiten und Talente, Gefühle und Verbundenheit sind Gottes Geschenke.
– Wer war das?, fragt sie, als sie im Wohnzimmer stehen.
– Ich, antwortet Ceyda.
|140| Die Antenne ist aus ihrer Verankerung gerissen und zudem entzweigebrochen.
– Wie ist das passiert?
– Ceren und ich haben getobt, sind auf den Sesseln und dem Sofa herumgesprungen, und dann dachte ich, ich falle, und habe mich einfach irgendwo festgehalten.
– Sag mir die Wahrheit, sagt Gül. Du weißt, du sollst immer die Wahrheit sagen, wir sind aufrichtige Menschen, wir lügen nicht.
Ceyda schaut zu Boden.
Wann sage ich es ihm?, fragt Gül sich erneut. Oder kann ich es möglicherweise reparieren? Nein, nein, das sieht nicht so aus.
– Die Wahrheit, mein Schatz, du brauchst keine Angst zu haben.
Sie weiß, dass Ceyda lügt, aber sie weiß nicht, was passiert ist.
– Ceren wars. Wir haben nachlaufen gespielt, und sie … Sie hatte Angst vor Papa, da habe ich gesagt, ich nehme die Schuld auf mich.
Wie naiv Gül ist, dass sie nicht selber drauf gekommen ist. Gefühle und Verbundenheit sind Gottes Geschenke, doch andere Köpfe arbeiten besser als ihrer.
– Hol sie mal her, sie braucht keine Angst zu haben.
Kurz darauf sitzen sie zu dritt im Wohnzimmer, und das Bild des Fernsehers erinnert an Ameisen, die über Schnee laufen.
– Was machen wir?, fragt Ceren.
– Keine Angst, wir finden schon eine Lösung.
– Was wird Papa mit Ceyda machen?
– Nichts, sagt Gül, nichts wird er tun. Wenn es nun mal so ist, dass man die Schuld auf sich nehmen kann, dann werde ich es tun. Ich werde sagen, es ist beim Saubermachen passiert. Ihr wisst von nichts, ist das klar? Aber ich möchte nicht, |141| dass ihr mich noch mal belügt. Es kann sein, dass ihr nicht immer alles erzählt, es kann sein, dass ihr sogar lügt, um andere nicht zu verletzen, aber ich möchte nicht, dass eine von euch beiden mich anlügt, und ich möchte auch nicht, dass ihr nur für euch selbst lügt. Geht jetzt in euer Zimmer und macht euch keine Gedanken mehr. Früher haben wir auch ohne
Brief aus der Türkei
gelebt.
– Aber du lügst doch Papa auch an, sagt Ceyda.
Gül sieht ihre Tochter an, sie braucht zwei Lidschläge lang für eine Antwort.
– Ich lüge, weil ich euch schützen will, sagt Gül, ich lüge, weil ihr Kinder seid und ich erwachsen bin.
Noch bevor Yılmaz und Nadiye eintreffen, hat Fuat sich schon einige Whisky-Cola genehmigt.
– Kaum fassbar. Beim Saubermachen. Einmal die Woche kommt die Sendung, und du machst ausgerechnet am Samstag die Antenne kaputt. Hatte das nicht Zeit bis Montag? Einmal die Woche sitzen wir schön zusammen und bekommen erzählt, was in der Heimat los ist, einmal die Woche. Andere Frauen fallen beim Fensterputzen auf die Straße, und meine zerstört die Antenne. Mit Gewalt hast du daran gezerrt, das sieht man genau, das nennst du also saubermachen. Dich sollte man nicht mal in die Nähe von elektrischen Geräten lassen, nicht einmal ein Bügeleisen sollte dir erlaubt sein. Einmal die Woche sehe ich mir eine schöne, schlanke Ansagerin an, weil meine Frau so fett ist, dass sie die Antenne aus dem Fernseher reißt. Versuchs doch mal mit einer Diät.
Den ganzen Nachmittag geht das schon so. Gül lässt ihn zetern, wie er möchte, denkt sich Antworten
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