Heimstrasse 52
Schwester von der Arbeit ab, sagt Gül. Und morgen auch. Hol deine Schwester von der Arbeit ab, jetzt, wo es so früh dunkel wird. Lass sie den Weg am Wäldchen vorbei nicht allein gehen.
– Und ich?
– Du gehst außen herum, wenn du sie abholst, und auf dem Heimweg nehmt ihr die Abkürzung.
Von diesem Tag an macht Gül in ihrer Spätschicht nicht mehr mit den anderen Pause, sondern zieht um kurz vor halb sieben ihre Jacke an, steckt ihre Zigaretten ein und geht raus auf den Hof. Dort stellt sie sich an den Zaun und blickt auf den Weg am Wäldchen. Sie kann ihre Töchter nur am Gang erkennen, doch jedes Mal, wenn sie sie erblickt, schmeckt die Zigarette noch besser und sie dankt dem Herrn ein weiteres Mal.
Einen ganzen Winter steht sie in der Spätschicht jeden Abend dort, gleichgültig, wie kalt es ist, gleichgültig, ob es regnet, hagelt oder schneit, sie raucht eine Zigarette und sieht zwei kleine Figuren aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne verschwinden, um kurz darauf ins Licht der nächsten Laterne zu treten.
Einen ganzen Winter lang gibt es diesen Moment, in dem die Zigarette auf einmal besser schmeckt, und Gül geht hinterher mit einem Lächeln zurück an ihre Arbeit. Einen ganzen Winter lang steht sie abends auf dem Hof, eine Hand am Zaun, und wartet auf den Anblick ihrer Töchter. Kein einziges Mal wird sie enttäuscht.
Wie wäre es wohl gewesen, wenn wir in der Türkei geblieben |163| wären, fragt sie sich manchmal, während sie wartet. Würde ich dann auch arbeiten? Würde Ceyda einen Beruf erlernen? Hätte Fuat weniger getrunken? Oder mehr? Hätten wir in einer Straße gewohnt, in der das Wort Nachbar das Gleiche bedeutet wie hier? Hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich meinen Vater jeden Tag gesehen hätte? Wäre da weniger Sehnsucht gewesen, weniger Angst? Und dafür mehr Sorge um das tägliche Brot? Und das Dach über dem Kopf? Wäre Fuat unglücklich geworden in diesem Beruf, den er nicht mochte? Und wäre er traurig darüber gewesen, seinen Vater nicht unterstützen zu können, der keine Arbeit mehr hatte, seit die Autos die Kutschen ersetzten?
Die ganze Welt ist eine Fremde, hat Yavuz ihr damals gesagt, als sie in Istanbul in den Zug gestiegen ist, um nach Deutschland zu fahren. Er war ein Bauer, ein alter Bekannter ihres Vaters, und er wiederholte oft seine Worte: Wir leben, dem Herrn seis gedankt, wir leben, wir stehen auf unseren eigenen Füßen. Die ganze Welt ist eine Fremde, in der wir gefangen sind, gefangen in der Zeit, die nur vergeht zwischen Geburt und Tod, davor und dahinter ist alles Ewigkeit.
Manchmal fühlt es sich in dieser Fremde so an, als würde man auf dem Dach stehen und alles überblicken können, als wäre da Weite und Ruhe und Behaglichkeit. Für die Dauer einer Zigarette fühlt man Frieden, Frieden auf dem Dach dieses Gefängnisses.
– Diese Spanier, sagt die Frau mit der blonden haarspraygefestigten Welle, die reden immer so laut, als wären sie allein auf der Welt.
Ihre Freundin trägt ein Kopftuch, ein kleines, dreieckiges, das nicht ganz ihren Hinterkopf bedeckt.
– Ja, stimmt sie zu, die kommen hierher und kennen keine Mittagsruhe, keinen Sonntag und lärmen bis spät in die Nacht. Das können die bei sich zu Hause machen, aber hier gehört |164| sich das nicht. Nicht mal Straßenbahn fahren kann man ohne diese Belästigung.
– Die sind nicht geschaffen für ein Leben hier, dauernd geht das Temperament mit ihnen durch.
Gül sitzt genau hinter den Frauen und kann jedes Wort hören. Genauso wie sie hören kann, was die beiden Männer weiter vorne an der Tür reden, doch deren Worte kann sie besser verstehen.
– Da war er gerade zwei Tage wieder hier, da haben sie ihm das Auto geklaut. Die müssen da irgendetwas eingeschweißt haben. Überleg mal, wie viel Zeug da drin gewesen sein muss, damit sich das alles lohnt. Wir können hier noch Jahre buckeln, bis unser Rücken ganz krumm ist, aber so wird man nicht reich.
– Das Auto ist weg, aber er hat trotzdem richtig Glück gehabt, sagt nun der andere. Wenn sie den an der Grenze erwischt hätten. Da kannst du reden, so lange du willst, das glaubt dir keiner, da sitzt du richtig in der Scheiße. Da kannst du dann Klagelieder singen und zuhören, wie der Wind durch die Ritzen deiner Zelle pfeift.
– So wie die anderen muss man es machen. Gewitzt. Find mal die Werkstatt in dem Gewirr Istanbuls, wo du dein Auto hast reparieren lassen. Und dann weis denen mal was nach. Gewitzt muss man sein,
Weitere Kostenlose Bücher