Heimstrasse 52
Schwestern mit, aber sie selbst waren erfüllt |172| von etwas, das weder Sehnsucht noch Verlangen war. Aus diesem Sommer bringen sie Kassetten mit nach Hause, die zu hören sie nicht müde werden. Lieder, die sie an diese fünfeinhalb Wochen erinnern werden, ihr Leben lang.
Selbst Fuat singt mit, auf dem langen Heimweg, während Gül bloß lächelt, während ihre Brüste bei jedem Schlagloch auf und ab hüpfen. Sie singt nicht, sie summt nicht, aber die Musik ist in ihr, als hätte sie den Gesang verschluckt.
Es ist, als würde Fuat eine Stricknadel in Gül hineinbohren, an einer Stelle, die sie selber kaum kennt, die den Schmerz aber nach tief drinnen schickt, wenn er sagt:
– Find mal endlich eine Arbeit.
Wann und wie das Gefühl des Sommers verlorengegangen ist, weiß Gül nicht, es ist Herbst, aber noch nicht so dunkel, dass Gül Ceyda abends abholen müsste, und Fuat sagt diesen Satz auch nicht so oft, wie er früher gesagt hat, er bevorzuge schlanke Frauen, doch er dämpft das Licht jedes Mal ein wenig mehr.
Es ist nicht so, dass Gül nicht sucht. Das Arbeitsamt sagt, es gäbe nichts für sie, die anderen Frauen in der Heimstraße sitzen ebenfalls zu Hause und finden nichts. Selbst Saniye, die so viele Leute kennt, kann Gül nicht helfen, sie ist selber froh, eine Arbeit zu haben, bei der sie acht Stunden lang mit den immergleichen Handgriffen Schuhe in Kartons packt.
– Wenn ich abends einschlafe, schrecke ich manchmal auf, weil meine Hände sich nicht bewegen und ich glaube, das Band würde weiterlaufen, ohne dass ich arbeite, sagt sie und lacht dann. Früher haben wir jeden zweiten Winter ein Paar Schuhe bekommen, sagt sie, wer hätte gedacht, dass wir mal in so einem Überfluss leben. Ich könnte jeden Tag zwei Paar mitgehen lassen, und niemand würde es merken. Und auch diese Arbeit ist ja nicht für immer.
Gül kennt niemanden, der in so vielen verschiedenen Fabriken |173| gearbeitet hat wie Saniye. Nirgendwo ist sie länger als drei Jahre geblieben, immer gab es etwas, was sie lieber machen wollte, immer hat sie nach Abwechslung gesucht, und beim Schuheverpacken ist sie nur gelandet, weil man zurzeit nehmen muss, was man kriegen kann.
– Find endlich mal eine Arbeit.
Fuat müsste doch in all den Jahren gemerkt haben, dass Gül nicht faul ist. Sosehr es ihr auch gefallen hat, zu Hause zu sein, sie möchte arbeiten, doch jedes Mal, wenn sie diesen Satz aus Fuats Mund hört, kommt es ihr vor, als sei es ihr persönliches Versagen, ohne Arbeit zu sein.
Schon bald wird Fuats Ton härter werden, und Vorwürfe werden folgen, aber zurzeit kann Gül sich noch in die Momente mit Ceren hineinfallen lassen, die das Hausfrauendasein ihr beschert.
Während Ceyda und Fuat arbeiten gehen, kommt Ceren nachmittags aus der Schule, und Mutter und Tochter haben Haus und Zeit für sich. Ceren erzählt von den Büchern, die sie liest, und Gül holt oft weit aus, wenn sie sich erinnert. Wie sie früher die Artikel oder halbe Artikel aus Zeitungen gelesen hatte, die ihre Mutter benutzte, um die Schränke auszulegen. Wie sie ein Glas holen geschickt wurde und sich dann, mit dem Kopf im Schrank, in eine Meldung vertiefte, in der die Rede von einem Baby mit zwei Köpfen war, und wie sie darüber die Zeit vergaß. Wie das Baby der Cousine der Stiefmutter tot geboren wurde und wie sie einmal geglaubt hatte, ihr Bruder würde an einer Sicherheitsnadel in seinem Blutkreislauf sterben. Wie Yasemin aus dem Dorf zu Onkel Abdurahman gekommen war …
Gül springt von Erinnerung zu Erinnerung, und Ceren findet manchmal kaum Gelegenheit, sie zu unterbrechen. Viele Geschichten bleiben ohne Schluss, und es wird Jahre dauern, bis Ceren die losen Enden zusammenfügen kann.
Ceren verliert sich nicht in Nebengeschichten. Durch die |174| Worte ihrer Tochter bekommt Gül einen Eindruck, wie es bei Gesine zu Hause aussieht und zugeht.
– Nein, wirklich, sagt Ceren, es ist so. Gesine putzt sich im Bad die Zähne, während ihr Bruder duscht.
– Wie alt ist denn ihr Bruder? Kennen die keine Scham? Was sagt ihre Mutter dazu?, fragt Gül staunend, fügt dann aber schnell hinzu: Das ist deren Kultur, das haben sie so gelernt, die meinen es nicht böse. Niemand möchte etwas Schlechtes für seine Kinder. Man muss die Menschen so akzeptieren, wie sie sind. Jeder ist anders.
Ohne auf das Programm zu achten, sitzt Gül abends vor dem Fernseher und versucht zu begreifen, wie diese Dinge wohl zusammenhängen.
– Warum kann Ceren nicht
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