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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Luft
und aufeinander schleuderte – ich wusste, dass es geschah, aber ich war nicht
im Geschehen enthalten. Ein Psychologe hätte das vielleicht als Abspaltung
diagnostiziert. Es würde den Rest meines Lebens auch noch zerstören, aber es
war mir egal. Oder nein, nicht egal, es geschah mir, aber es geschah mir nicht
hier. Ich hätte dorthin reisen müssen, um vom Tornado in die Luft gerissen zu
werden. Ich durfte nur nicht in die E-Mails schauen oder das Handy anschalten.
Ich sollte es am besten im Klo runterspülen. Und den USB -Stick gleich
hinterher.
    Zuerst dachte ich, Isso hätte wieder eine Maus, als ich das Rumpeln
und Krachen und Galoppieren hörte, aber es war mein Kuli, den sie vom Tisch
geschubst haben musste und mit dem sie jetzt fröhlich Fußball spielte. Sie
lauerte ihm auf, ging dann auf ihn los und kickte ihn durchs Zimmer, um ihm
hinterherzuflitzen, ihn in die Luft zu schleudern, wegzuhauen und ihm wieder
hinterherzuschießen, wie ein gefleckter Pfeil. Ich musste lachen.
    »Du lachst mich aber nicht aus«, sagte sie, ohne ihr wildes Tun zu
unterbrechen.
    »Nein, ich lach dich an.«
    »Will ich dir auch geraten haben.«
    »Du bist ein Hooligan«, sagte ich.
    »Umso falscher wär’s, mich zu verärgern«, sagte sie, und zack war
der Kuli unterm Sofa verschwunden und ihr Interesse daran schlagartig
erloschen. Sie streckte sich, machte einen Buckel, kratzte zwei-, dreimal am
Teppich, trabte aus dem Zimmer und verschwand um die Ecke.
    Zum ersten Mal fiel mir auf, wie wohnlich dieses Haus eingerichtet
war. Es wirkte lebendig und beatmet, auf dem Boden lag nicht der Teppich, den
man eigentlich hatte wegschmeißen wollen, an den Wänden hingen zwei Aquarelle
und ein Ölbild, Landschaften, die jemand mit Liebe und Geschmack ausgesucht
hatte, in der Küche ein gerahmtes Jugendstilplakat und, in kleinen Drahtkörben,
ausschließlich gebrauchsfähige Utensilien, Olivenöl, Weinessig, eine
Pfeffermühle, gute Gewürze in hübschen Gläsern, eine Patchworkdecke, die zum
Bettüberwurf passte, schmückte die Schlafzimmerwand – ich war kein Mieter, ich
war Gast. Das musste der Geist von Carmen Seelig sein, der hier waltete. Alle
Dinge sympathisch. Sogar die Kuckucksuhr im Flur. Die zum Glück nicht aufgezogen
war. Oder der Kuckuck hatte seine Stimme verloren. Aufs Zifferblatt hatte ich
noch nicht geschaut – ich hatte überhaupt nicht hingeschaut, sie nur aus dem
Augenwinkel registriert, weil ich Kuckucksuhren fast noch deprimierender als
Konfetti oder Clowns finde. Diese nicht. Solange sie die Klappe hielt.
    Wenn ich schon keinen Wein mitbringen sollte, dann würde ich
wenigstens ein paar Blumen holen. Obwohl das für eine Gartenbesitzerin
vermutlich ein überflüssiges Geschenk war. Egal, irgendwas wollte ich in der
Hand halten, wenn ich dort klingelte.
     
    ˜
     
    Auf dem Weg zum Dorf, das eigentlich eine Stadt ist, aber
so klein, dass ich es nicht schaffte, sie so zu nennen, ging mir eine der
Melodien von Villa-Lobos durch den Kopf, und ich staunte über meine eigene
Gelassenheit. Mein Leben ging gerade in Trümmer, aber ich war fröhlich, als
ginge mich das alles nichts an. Das, was in Trümmer ging, war in Berlin, das
was mich anging, war hier: eine außerordentlich charmante Katze, auch wenn sie
mich gelegentlich für dumm verkaufen wollte, ein charmantes Haus, in dem ich
gern den Rest meiner Tage hätte verbringen wollen, eine charmante Vermieterin
und ein Städtchen mit Fachwerk und Geranien, in dem ich alles bekam, was meinen
und Issos Gaumen erfreute.
    Ich fand hübsche Blumen, lachsrote Freesien und blassgelbe Gerbera,
die ich mir leisten konnte, besorgte noch Schlemmerfilet in der Packung, Thunfisch in der Dose und eine bezahlbare Flasche Wein, die mir
zwei oder gar drei Abende reichen konnte, und machte mich auf den Rückweg zum
Haus.
    Dort sah ich schon von Weitem, dass Isso sich auf dem kleinen Weg
zur Tür hin und her rollte. Es wirkte sehr vergnügt. Ein Idyll.
    »Das musst du alles wieder aus deinem schönen Fell putzen«, sagte
ich, als ich nahe genug war.
    Sie schaute mich überrascht an, offenbar hatte sie mich nicht kommen
gehört. »Sei nicht so ermahnlich«, sagte sie, »das klingt nur nach Fürsorglichkeit, ist aber Gemecker.«
    »Ermahnlich? Was ist denn das für ein Wort.«
    »Die Worte entstehen bei dir im Kopf. Ich
hafte nicht für Unfälle.«
    »Aber ich kenne dieses Wort nicht mal, es kann nicht in meinem Kopf
entstanden sein.«
    »Ist es aber.«
    »So was traust du meiner

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