Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
zum Plaudern hier, es gibt genug zu tun!«
Marietta grinste spöttisch. »Wenn euch Männern mal was nicht paßt, dann verdrängt ihr es. Da seid ihr alle gleich. Also sag schon, was zu tun ist.«
»Später«, sagte Laurenti und wandte sich seinem Schreibtisch zu. »Oder doch nicht. Ich brauche eine Akte aus dem Archiv: Elisa de Kopfersberg. Ist schon lange her. Die Frau des Österreichers. Mitte der Siebziger, ganz zu Anfang meiner Dienstzeit. Vermutlich im zweiten Jahr.«
Vor einigen Tagen war im »Piccolo«, der einzigen Tageszeitung Triests von Bedeutung und mit einer Auflage von knapp 60000 Exemplaren, ein bösartiger Artikel über das Nachtleben und die Prostitution in der Stadt erschienen. Dieser Artikel war Wasser auf die Mühlen einiger rechter Abgeordneter und natürlich auf jene der Lega Nord. Er stellte Triest dar, als wäre die Stadt schlimmer als Mailand, Turin und Neapel zusammen. »Im Borgo Teresiano riecht es nach Urin, und die Anwohner trauen sich nicht mehr auf die Straße. Überall liegen gebrauchte Präservative herum. Dies ist ein bürgerliches Viertel und kein Platz für ausländische Dirnen! Wie lange wollen Stadtverwaltung und Polizei noch untätig bleiben? Wer schützt die Rechte der Bürger?« Zwar war dies seit drei Jahren das beherrschende Sommerthema des Polizeiberichts der Zeitung, doch diesmal hatte es eine ungewohnte Schärfe erhalten.
Auf einer eilig einberufenen Sitzung mit dem Polizeipräsidenten hatten Laurenti und seine Kollegen die Lage analysiert:
In Wahrheit, so stellten sie fest, gab es im Borgo Teresiano im Jahresdurchschnitt nicht mehr als fünfzehn Prostituierte. Und dies auch erst seit drei, vier Jahren. Früher standen nur ein paar ältere Frauen herum, »Damen mit sehr, sehr viel Erfahrung«, wie man sie charmant umschrieb, vorwiegend an der Viale XX Setiembre herum. Sie taten sich schwer, Freier zu finden. Die neuen Prostituierten standen ab 23 Uhr im Borgo Teresiano, zwischen Bahnhof und dem Canal Grande. Mädchen aus Kolumbien oder Nigeria, erstaunlich wenig Slawinnen, kaum eine Italienerin. Junge Frauen, die unter falschen Versprechungen nach Westeuropa gelockt und zur Prostitution gezwungen wurden und oft nicht einmal wußten, in welcher Stadt sie sich gerade befanden. Die Zuhälterbanden schleusten sie nach festgelegten Plänen weiter in den nächsten Ort, bevor eines der Mädchen Fuß fassen konnte und möglichst bevor sie in Konflikt mit den Aufenthaltsbehörden gekommen waren.
»Triest ist keine Hauptstadt der Prostitution, noch nicht einmal ein richtiger Nebenschauplatz. Wir haben die Sache im Griff«, hatte Laurenti am runden Tisch im Sitzungszimmer des Polizeipräsidenten gesagt. »Schon in Udine geht es schlimmer zu. Aber wer ist eigentlich dieser Schreiberling?«
Keiner kannte den Namen, und erst später fand Laurenti heraus, daß ein Volontär beim »Piccolo« sein Werk begonnen hatte, der von seinem Vater, dank guter Beziehungen zu den Inhabern des Blattes, eingeschleust worden war. Der fünfunddreißigjährige Sohn, der es noch immer nicht geschafft hatte, auf eigenen Füßen zu stehen, war beim Lokalteil des »Piccolo« gelandet und schrieb Hetzartikel im Stil der allerschlimmsten Saubermänner.
Weil es Sommer war und die Familie Laurenti es vorzog, im Winter in Urlaub zu fahren, und weil wegen der Ferienzeit die Dienststellen knapper besetzt waren, landete der Fall auf Laurentis Schreibtisch. Es gab Druck von ganz oben. Vor allem aber, weil die Lega und die Faschisten wild polemisierten. Dagegen war die Forza Italia noch anständig und forderte lediglich den Rücktritt des Bürgermeisters. Also ordnete man eine Untersuchung an und bestimmte als Leiter einen Beamten, der in seiner Arbeit Ansehen genoß: Proteo Laurenti.
»Zu viele Ausländer?« Laurenti faßte sich an die Stirn. »Hier sind doch fast alle Ausländer. Echte Triestiner gibt es doch gar nicht. Von was lebt diese Stadt eigentlich, und durch wen wurde sie groß und reich? Ausländer, Welthandel, Kosmopolitismus, Freihafen! Wo hat fast jede Religion der Welt ihre eigene Kirche? Sogar den Suezkanal haben sie mitfinanziert. Und von wo kommen eigentlich die Schiffe? Und da fordern diese Schwachsinnigen wegen fünfzehn Nutten, von denen nicht einmal drei illegal auf den Strich gehen, noch härtere Kontrollen. Idioten!«
Laurenti fluchte laut vor sich hin. Er würde für die nächsten Tage also verstärkte Kontrollen anordnen, Einsätze gegen die Autofahrer, die im Schrittempo
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