Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
Hüfte und ließ ihn über ihre Beine zu Boden fallen. Sie hob ihn auf und steckte ihn in die Tüte, so wie der Mann es ihr befohlen hatte. Dann richtete sie sich langsam wieder auf. Sie wollte sich umdrehen, doch spürte sie die Pistole an ihrer Schulter.
»Los! Mach jetzt.«
Olga streifte ihren linken Schuh ab und bückte sich langsam, um ihn aufzuheben und in die Tüte zu stecken. Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie plötzlich die Klinge des Messers im Rücken. Sie verharrte halb gebückt. Die Klinge zischte durch den Stoff und durchtrennte ihn auf ihrem Rücken. Das Oberteil fiel ihr über die Schultern bis zu den Ellbogen. Dann spürte sie, wie das Messer ihren Slip an ihrer linken Hüfte durchschnitt. Er hatte sein sadistisches Vergnügen daran, sie leiden zu sehen. Er fühlte sich im Recht, denn Olga war eine Gefahr geworden.
»Ich habe dir gesagt, du sollst dich ausziehen!«
Olga streifte die Fetzen ab und ließ sie liegen. Sie war jetzt nackt. Sie hatte schon lange ihre Scham vor den Blicken von Männern auf ihren Körper verloren. Sie hatte sie verdrängt. Sie mußte sie verdrängen, sonst hätte sie sich nicht an sie verkaufen können. Aber jetzt, hier im Dunkeln, vor dem Mann, der sie schon oft ohne Geld beschlafen hatte, weil das zu ihrer Absprache gehörte, hier plötzlich schämte sie sich und bedeckte sich mit ihren Händen und Armen. Jetzt war nichts mehr zu verdrängen, sie war ganz nackt, bis in ihre tiefste Seele nackt.
»Knie dich hin!« Die Stimme in ihrem Rücken war kalt.
Olga spürte auf einmal ihre Blase. Sie konnte den Urin nicht mehr halten. Er rann ihr die Schenkel hinunter. Noch immer stand sie. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, wie die Zeitlupe eines Films. Es war wie in einem der vergeblichen Fluchtversuche in den Albträumen, die sie verfolgten, wenn sie zu wenig getrunken hatte, um nicht zu träumen.
Wieder spürte sie den Lauf der Pistole in ihrem Rücken. Sie ging sehr langsam in die Knie. Sie wußte, daß dies ihre letzte Bewegung sein würde. Sie konnte nicht schreien, sie hätte es vermutlich nicht einmal gekonnt, wenn das Klebeband über ihrem Mund nicht gewesen wäre. Und sie weinte nicht mehr.
»Steck die Sachen in die Tüte und gib sie mir!«
Olga tat es. Sie hatte keinen Widerstand mehr. Gegen nichts. Sie reichte mit ihrem linken ausgestreckten Arm die Tüte nach hinten und spürte, wie sie ihr abgenommen wurde. Sie blickte starr geradeaus ins Schwarzblau der Nacht.
»Es ist deine letzte Chance!« Sie hörte den Mann und wußte, daß er log. »Wo hast du das Zeug?« Er riß ihr grob das Klebeband vom Mund.
Olga schwieg. Sie begann jetzt zu frieren, fühlte auf ihrem ganzen Körper eine Gänsehaut. Sie wußte, daß er sie in jedem Fall umbringen würde, auch wenn sie es ihm sagte. Sie klapperte mit den Zähnen, dann ließ sie sich einfach nach vorne fallen und blieb reglos auf dem harten Boden im Gesträuch liegen. Sie hörte, wie der Mann sich entfernte. Es waren vielleicht fünf Schritte. Dann hörte sie seine Stimme noch einmal.
»Es ist schade um dich! Einen solchen Körper gibt es selten!«
Dann hörte sie nichts mehr. Nicht einmal den ersten der drei Schüsse, die sie töteten.
Triest, 18. Juli 1999
Proteo Laurenti hatte gut geschlafen, und seine Laune war bestens, als er um halb neun sein Büro betrat. Er bat Marietta, den Leiter des Streifendienstes zu sich zu rufen, dem er vorgesetzt war, solange er den stellvertretenden Questore vertrat, und gab ihr die Anordnung, die der Questore gestern verteilt hatte, zum Fotokopieren.
Claudio Fossa war ein sehr gelassener, ruhiger Mann. Er hatte den Höhepunkt seiner Karriere längst erreicht und sah das Ende seiner Dienstzeit in eineinhalb Jahren auf sich zukommen. Als Leiter des Streifendienstes führte er seine Mannschaft mit der geübten Strenge, die seine Vorgesetzten von ihm erwarteten, und dem erforderlichen Maß an Nachsicht, um seine Leute hinter sich zu wissen. Er verlor nie den Kopf, auch in den verwickeltsten Situationen nicht, die freilich selten vorkamen in Triest. So wie in der vorigen Woche, als der Ministerpräsident nach Triest gekommen war, um die Ausstellung »Cristiani d’Oriente« zu eröffnen, und zeitgleich auf einer steil ansteigenden Nebenstraße in der Stadt einem Lastwagen der Diesel ausgegangen war, der einen Rückstau von zwei Kilometern auf die Viale Miramare verursachte. Ausgerechnet auf der Strecke, die für den Regierungschef vorgesehen war und zu der es keine
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