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Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod

Titel: Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Inhalt bekannt wurde. Sie hatte beides in einen Karton gepackt und diesen, sorgfältig zugeklebt, bei ihrer Nachbarin, einer alten und unverdächtigen Signora, versteckt. Die würde sie der Polizei geben, wenn ihr und ihrem Bruder etwas passieren sollte. Das hatte sie der alten Dame eingeschärft. Niemand anderem, egal, wer es ist! Die alte Signora Bianchi, der Olga ans Herz gewachsen war, hatte es ihr versprochen. Manchmal erzählte sie der Signora bei einem Teller Spaghetti in deren Küche von ihrer Familie, vom Leben in der kleinen ukrainischen Stadt im Vierländereck Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien. Von dem Städtchen, in dem es Häuser gab, die denen Triests nicht unähnlich waren, nur kleiner. Von der Stadt an der Eisenbahnlinie nach Ungarn, nach Budapest, über die sie nach Westen gekommen war. Nach Deutschland hatte sie gewollt, wurde aber von Ungarn nach Kroatien gebracht und von dort nach Italien. Man hatte sie vergewaltigt, hatte sie geschlagen und wieder vergewaltigt. Damals war sie achtzehn gewesen. Viele Männer waren es, die über sie hergefallen waren, bis sie irgendwann ihren Widerstand aufgab. Man hatte ihr gedroht, daß ihrer Familie etwas geschehe, daß man mit Mutter und Schwestern das gleiche mache wie mit ihr und daß man Bruder und Vater ermorde, wenn sie nicht gefügig sei, oder wenn sie nur daran denken würde, abzuhauen. Olga sagte, sie hätte noch Glück gehabt, daß man sie nach einer Odyssee durch Europa vor zwei Jahren nach Triest gebracht hatte, wo sie ihre »Anstellung« erhielt und nicht mehr alle zwei, drei Monate in eine neue Stadt geschickt wurde. Nach Deutschland allerdings würde sie wohl nicht mehr kommen.
    Olgas Glück war zu Ende. Der Mercedes war von der Schnellstraße abgebogen und fuhr jetzt über kleine dunkle Nebenstraßen. Wahrscheinlich befanden sie sich nicht mehr weit von der slowenischen Grenze entfernt. Dann merkte Olga, daß sie auf einen Feldweg abgebogen waren, es rumpelte gewaltig. Nach fünfzig Metern stoppte der Wagen, die Lichter wurden ausgeschaltet und der Motor abgestellt. Der Fahrer stieg aus. Er öffnete die hintere Tür und befahl mit leiser, aber klarer Stimme: »Steig aus!«
    Olga versuchte sich aufzurichten, doch mit den auf dem Rücken gefesselten Händen fand sie keinen Halt. Sie hörte, wie die Pistole gespannt wurde.
    »Steig aus, habe ich gesagt.«
    Olga nahm ihre ganze Kraft zusammen und rutschte auf Knien über den Getriebetunnel, wobei sie sich den Kopf am Türrahmen stieß. Sie schaute direkt in den Lauf der Pistole. Sie rutschte noch ein Stück weiter und fiel auf die Steine des Feldwegs. Noch immer hielt sie ihre Tasche und den Schlüssel fest. Sie wollte sie nicht loslassen, es war das letzte, was ihr geblieben war.
    »Schneller! Steh auf!« Der Mann stand hinter ihr, sie sah seine Schuhe und die Hosenbeine. Mühsam richtete sie sich auf.
    »Geh voran!« Er schubste sie grob, und sie stolperte, verlor ihren rechten Pumps. Die spitzen Steine taten ihr in der Fußsohle weh. Er schubste sie nochmals. Nach einigen Metern befahl ihr der Mann, nach rechts zu gehen. Sie sah eine Lücke im Gebüsch und ging hinein. Brombeersträucher rissen ihre Haut an den Waden auf. Tränen vermischten sich mit dem Make-up und liefen ihre Wangen herunter. Olga merkte nicht, daß sie weinte.
    »Halt.«
    Die Tasche wurde ihr mit einem Ruck entrissen und der Schlüssel aus ihrer anderen Hand gedreht. Es ruckte an der Fessel, sie spürte die Klinge eines Messers. Mit einem Mal waren ihre Hände frei. Sie nahm sie nur zögerlich nach vorne. Das Blut durchfloß ihre Adern wieder, und die Hände wurden warm.
    Sie hörte, wie etwas neben ihr auf den Boden fiel. Es war eine Plastiktüte.
    »Zieh dich aus! Und steck die Kleider in die Tüte!«
    Noch immer stand sie mit dem Rücken zu dem Mann. Sie bewegte sich nicht. Sie konnte sich nicht bewegen.
    »Hast du nicht gehört? Zieh dich aus!« Anhand ihrer Kleidung sollte sie nicht identifiziert werden können. Die Erde war so trocken, daß weder sein Wagen noch er Abdrücke hinterließen. Wenn er ihre Kleider vernichtete, könnte man auch keine Spuren im Wagen mehr finden. Je weniger man von Olga fand, das wußte er aus Erfahrung, desto länger würde es dauern, bis die Behörden wußten, wer sie war, und um so länger blieb er von irgendwelchen Schnüfflern verschont, die ohnehin nichts beweisen konnten, wenn er konsequent blieb.
    Sie spürte den Lauf der Pistole in ihrem Genick. Sie zerrte den Rock über ihre

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