Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
meiner Assistentin. Morgen gehen wir zum Käser in den Schattgraben.«
»Da muss ich zuerst den Wirt fragen«, wandte sie ein. »Aber«, Nicole zögerte, »du gehst doch nicht wirklich von Selbstmord aus?«
»Stimmt«, sagte Müller.
»Was ist denn deine These?«, fragte die Studentin.
»Mord!«
Immer noch Mittwochabend, 20 .9 .2006
Nicole hatte für beide einen Kaffee im Glas geholt. Die Schnapsflasche stellte sie gleich mit auf den Tisch. Der eine oder andere Bauer hatte die Tür geöffnet, war aber gleich weiter gezogen, als er bemerkte, dass keiner von seinen Kumpeln anwesend war. Der Wirt hatte vor einer halben Stunde mal seine lange Nase in die Gaststube gesteckt und lebte jetzt seine Depression in der Küche aus. Ein lautes Knacken und das darauf folgende leise Knistern erinnerte Heinrich Müller an die gute alte Zeit der Schallplatte. Tatsächlich hörte er die ersten Takte von Bilitis. Seit der Wirt die Streichmusik Alder aus dem appenzell-außerrhodischen Urnäsch zu oft auf den Plattenteller gelegt hatte, galt er im Kurzgraben als musikalischer Verräter. Nun hörte er eben süßlich-symphonische Geigenklänge und hing seinen Erinnerungen an David Hamiltons Weichzeichnerfotografien für pubertäre Jungs-Träume nach, sein Bild von den Siebzigerjahren, unscharf und nackt naturverbunden. Späthippies eben.
»Quitten«, sagte Lucy, »das Beste, was der Kurzgraben hergibt.«
Dann schenkte sie sich einen großzügigen Schluck ein und schlürfte vom heißen Getränk.
»Mord, hast du gesagt? Hier reden alle von Selbstmord.«
»Wieso sollte sich Bähler denn umgebracht haben?«
»Man spricht von Familienproblemen und von einer unmöglichen Situation, in die er sich in der Gegend hineinmanövriert hat. Wahrscheinlich meinen die Leute seine Stellung bei Moloko und die damit verbundenen Streitigkeiten.«
»Welche denn?«
»Am besten reden wir morgen in der Käserei darüber. Das erklärt es dann. Aber: Was spricht für Mord? Die Polizei hat ja nicht weiter ermittelt.«
»Die warten die genauen Untersuchungsergebnisse des Rechtsmediziners und der Spurensicherung ab. Vorderhand wissen sie nicht, wo sie suchen sollen. Und es läuft ja keiner weg. Sonst kann er gleich ein Geständnis unterschreiben. Außerdem: Mit einer vorgezogenen Untersuchung ohne Fakten machen sie nur die Bevölkerung kopfscheu. Auf bloßen Verdacht hin sagt keiner was.«
»Das stimmt«, entgegnete Nicole, »da sind die Leute hier sehr verschlossen, fast schon feindlich gestimmt gegenüber Autoritäten von außerhalb.«
Etwas von Heinrichs maoistischer Jugendzeit war in ihm zurückgeblieben, eine Erinnerung an die ›Hundert-Blumen-Kampagne‹, die auch ihn – fern der chinesischen Führung – dazu veranlasst hatte, auf dem Land eine neue Existenz zu suchen, die Stadt hinter sich zu lassen, um die Revolution in die Provinz zu tragen. Als er erkannte, dass die Bauern der Gegend religiöse Anarchisten waren, die trotz der Subventionen ohne den Staat auszukommen glaubten, war es bereits um ihn geschehen. Und nun noch die Völkerkunde: Verliebt in einen dunkelhaarigen teuflischen Engel und in den tiefgründigen Blick der Kühe.
»Im Weiteren«, fuhr er fort, bemüht, Haltung zu bewahren, »lautet die vor kurzem erneuerte Lebensversicherungspolice auf die Frau und die beiden Kinder. Auffällig ist eigentlich nur die deutlich höhere Versicherungssumme. Sonst hätte die Firma den polizeilichen Bericht abgewartet und nicht die Hand in die Kasse gesteckt, um mich zu bezahlen und hierher zu schicken.«
Henry nahm einen Schluck Kaffee und zwinkerte Nicole zu.
»Ich bin nämlich ziemlich teuer.«
»Ich dachte: kostbar?« Nicole lächelte zurück.
»Kostbar auch, aber in diesem Fall in erster Linie teuer.« Müller trank noch ein Glas Roten leer, bevor er weitersprach: »Ich hätte folgenden Vorschlag: Du begleitest mich nicht nur zum Käser, sondern auch zu den Bauern und hältst hier im Bären die Ohren offen. Absolute Verschwiegenheit vorausgesetzt.«
»Was springt für mich dabei raus?«
»Je nach Erfolg ein Anteil am Honorar. Spannende Einsichten ins Dorfleben und Einblick in die Ermittlungen.«
Nicole brauchte nicht lange zu überlegen. Sie schlug in die ausgestreckte Hand ein. Schließlich hatte sie als Ausgleich zur ethnologischen Feldarbeit ihr Zimmer mit Kriminalromanen voll gestopft. Sie hatte alles gelesen, was in der Schweiz in den letzten Jahren erschienen war. Sie schätzte den Realitätsgehalt der spannenden Geschichten
Weitere Kostenlose Bücher