Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
jung, dachte er.
Er ist sehr lieb, aber zu alt, seufzte sie.
»Was ist deiner Meinung nach der wahrscheinlichste Hergang?«
»Es müssen mindestens zwei Personen informiert gewesen sein. Die eine hat Bählers Abfahrt von Punkt X signalisiert, die andere auf ihn gewartet und an der entscheidenden Stelle ein Hindernis platziert, dem Bähler ausweichen musste. Das Hindernis konnte schnell entfernt werden.«
»Also doch eine Kuh«, schmunzelte Nicole.
»Am besten geeignet wäre ein zweites Auto. Damit hätte man den Brandbeschleuniger transportieren und die Spuren wieder beseitigen können.«
»Wir suchen also vorerst mal ein Auto und eine oder zwei Personen«, fasste Nicole zusammen, als sie die voll beschriebene Schiefertafel mit einem nassen Schwamm säuberte.«
»Und ein Motiv«, sagte Henry Müller. »Und ein Bett«, setzte er hinzu. Dann begab er sich in sein Zimmer, das dermaßen ruhig war, dass er sich vor dem Einschlafen noch auf das Erstellen einer Liste der begehrenswertesten Frauen konzentrieren konnte. Auf dem Zettel, der zu Boden segelte, stand: Lucy, Nicole, Lucy, Nicole.
Donnerstag, 21 .9 .2006
Am nächsten Morgen nahmen die beiden den Weg in den Schattgraben unter die Füße, eine leicht ansteigende, mehrheitlich aber gerade Straße, die nach gut vier Kilometern nach links in das schmale Nebental abzweigte. Der Wirt hatte Nicole nur unter Murren ziehen lassen, da er noch unter dem Einnahmenverlust des Vorabends litt und genau wusste, dass die engere Bekanntschaft seines Personals mit diesem Mann aus Bern dem Geschäft nicht förderlich war. Aber es hatte sich bereits im Kurzgraben herumgesprochen, dass es sich bei Müller um einen Privatdetektiv handelte, und da konnte man vielleicht sogar mit der Neugier der Leute rechnen. So ließ er denn seine Bedienung ziehen.
Die junge Frau pflegte an diesem Morgen wieder ihre Lucy-Seite. Heiri betrachtete sie erstmals im hellen Licht des Tages, den nachlässigen Mittelscheitel in den schwarz gefärbten Haaren, das dünne Lächeln im bleichen Gesicht. Hinter den Ohren fielen die Strähnen über das grellrote bauchfreie Shirt, eng am Körper anliegend wie die lächerlich tief sitzenden Jeans, die aber – das musste er zugeben – den Schwung der Hüften elegant verstärkten. Im Bauchnabel ein glitzerndes Piercing, über der rechten Hüfte die Tätowierung eines schwarzen Drachens.
Unter der strengen Stirn blickten nussbraune Augen in die Tiefe des Raums, als ob sie nichts wahrnehmen würden. Aber sie sahen sehr wohl, was sich um sie herum abspielte. Dann und wann gruben sich zwei nussbilligende Fältchen von den Mundwinkeln zum Kinn, und die Augen fielen tiefer in den Schädel hinein, die Wangenknochen trieben auf. Der Schattenwurf zeichnete im jungen Gesicht einen Totenschädel, ein mittelalterliches Memento mori, fürchte dich vor dem Tod. Er hätte ihr alles zugetraut in diesem Augenblick, der nur von kurzer Dauer blieb, ihn jedoch in seinen Bann zog.
Ihre glockenhelle Himmelsstimme brachte den Sonnenschein zurück und vertrieb die düsteren Gedanken.
»Der englische Ethnologe Nigel Barley ist mein Vorbild. Er hat andere Völker nicht nur als Objekt seiner Forschung gesehen, sondern er ist sich auch seiner Einschränkungen als Mensch bewusst geworden, der einer fremden Kultur begegnet. Er hat über die Unannehmlichkeiten des Alltags berichtet und über Missverständnisse, die andernorts als seriöse Erkenntnisse in Forschungsberichte eingeflossen sind. Er hat sich auch mit seinem eigenen Volk aus der Sicht des Ethnologen beschäftigt. Das fasziniert mich ebenfalls, und manchmal habe ich das Gefühl, die Kurzenauer seien für mich ebenso fremd wie ein Tuareg-Stamm in der Sahara.«
»Aber jemand hat einen Menschen umgebracht. Deshalb solltest du mir ein bisschen mehr über das Volk in diesem Tal erzählen.«
Nicole seufzte. »Fangen wir mit den Daten an. Die Gemeinde Kurzenau – die alle Siedlungen im gesamten Tal bis hin zur Ilfis und die Einzelhöfe auf den umliegenden Höhen umfasst – hat etwa 400 Einwohner. Knapp die Hälfte davon heißt Graber.«
»Die aus dem Graben.«
»Das könnte man glauben. Wahrscheinlicher jedoch ist der Ursprung aus einer Berufsbezeichnung. Die meisten Familiennamen stammen aus dem Spätmittelalter, ihnen zu Grunde liegt ein Beruf, eine Herkunft, ein Vorname oder ein Übername.«
»Also jemand, der gräbt«, vermutet Müller.
»Normalerweise der Totengräber.«
»Dann gab es hier aber viele davon.«
»Sie
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