Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
waren eher fortpflanzungsfreudig angesichts des Todes, würde ich meinen. Es gibt aber auch Namen wie Himmel und Höll, Angst und Sorg, Arm und Reich. Sie spiegeln die Verhältnisse im Tal besser wider, als es viele lange Geschichten täten. Einmal im Jahr, an Allerheiligen, wird gezählt, ob alle noch da sind.«
»Da haben wir noch fünf Wochen Zeit. Hoffen wir, dass es bei dem einen Todesfall bleibt.«
»Jeremias Gotthelf, der ja in einer Ethnologie des Emmentals nicht fehlen darf, hätte über die Kurzenauer gesagt: Der liebe Gott wird wohl wissen, warum er die Art von Kreaturen etwas nebenaus auf das Land getan hat.«
Müllers Beine waren kurz gewachsen, sodass sich der Körper wie ein tiefer gelegtes Chassis durch die Gegend schob, mit Bodenhaftung, aber plump und auf eine schläfrig machende Art bedächtig.
Im Gegensatz dazu sein Charakter: unaufgeregt frisch, schnell reagierend, jede Situation in Bruchteilen von Sekunden erfassend. Er überrascht deswegen alle, wird unterschätzt, aber hat gelernt, seine Fähigkeiten erst aufleuchten zu lassen, wenn er sie braucht. Bei Frauen war diese Taktik allerdings nicht besonders Erfolg versprechend.
Vielleicht war er inzwischen auch einfach zu alt. Zu alt jedenfalls für die freudlos Magersüchtigen, die er eher Anatomiestudentinnen vorgeführt hätte, als sie in sein Bett zu lassen. Denn Anatomiestudentinnen, das hatten ihn seine Besuche in der Rechtsmedizin gelehrt, nahmen lieber einen Bissen oder ein Glas zu viel zu sich als zu wenig. Sonst hätten sie diesen Beruf nicht ausgehalten, wären daran zerbrochen, hätten aufgegeben. So aber strahlten sie die mütterliche Gesundheit aus, die es braucht, um dem alltäglichen Tod ins Auge zu sehen, und auch, um Kinder auf die Welt zu bringen, die dem Sterben Hohn lachten. Wenigstens in den ersten Lebensjahren, die irgendein Idiot einmal als unschuldige bezeichnet hatte. Und bis die nächste Generation der Anatomiestudentinnen sich ihrer annahm.
Der Schattgraben trug seinen Namen nicht zu Unrecht. Dichter Tannenwald säumte die steilen Flanken, und im unteren Teil, dem Grasland, auf dem eine kleine Kuhherde weidete, hatten die starken Regenschauer der vergangenen Wochen nicht nur eine stickig-neblige Feuchtigkeit zurückgelassen, sondern blanken Boden, auf dem Erdrutsche niedergegangen waren. Sie wirkten wie offene Wunden in der saftgrünen Haut.
Von weitem sahen die beiden Wanderer bereits die Käserei.
»Es ist ein günstiger Zeitpunkt, um mit dem Käser zu reden«, meinte Nicole, »die Milch von gestern Abend und heute Morgen ist bereits verkäst und liegt in der Presse.«
Im ersten Stock des Gebäudes hingen tibetanische Gebetsfahnen von Fenster zu Fenster. In einem davon sahen sie noch kurz einen jugendlichen Kopf mit blonden Haaren, der jedoch sofort im Haus verschwand.
»Ist das der Endpunkt der Feng-Shui-Leitung das Tal hinauf?«, witzelte Müller.
»Das hat nicht wirklich etwas zu bedeuten. Das war übrigens Beat Eichenberger, Sohn von Werner und Ursula. Er ist ein religiöser Wirrkopf. Er war ein herzguter Bursche, aber über seiner Wiege hatte die Sonne nicht geschienen; er war unbehülflich, hatte immer Unglück, was er anfing, lief ihm krumm. Ich habe mir sagen lassen, dass er ein verspäteter Dorfhippie war, einer, der im Tal nicht genug bekommen konnte und sich deshalb öfter in der Stadt aufhielt, als ihm gut tat. Bis er an einem denkwürdigen Wochenende den einen oder anderen Trip zu viel eingeworfen hat und von seiner Verblendung nicht mehr los kam. Seither ist jeder Glaube so gut wie der andere, und je nach Laune ist es eine Geste der Versöhnung, die ihn antreibt, oder dann die Anrufung des rächenden Gottes, dessen, der nie verzeiht.«
»Beat, man würde meinen, der Glückliche«, warf Müller ein, »ein Name, den man deutsch oder englisch aussprechen kann, und dann hat man das, was den jungen Mann antreibt.«
»Na gut«, seufzte Nicole. »Er predigt den Jüngsten Tag – wenn du das meinst –, sieht Verdammnis über die Welt kommen, besonders über jene junge Frau im Kurzschachen, die ihm Vorjahren an einem Abend, als er müde von der Berufsschule nach Hause gekommen ist, einen Korb gegeben hat. Sie besonders werde im Fegefeuer schmoren und kein Ablass, keine christliche Wohltat werde ihr Leiden verkürzen.«
»Nicht genau das, was man verzeihende Liebe nennen würde.«
Unterdessen waren sie vor der Käserei angekommen. An das Haupthaus mit seinem prächtigen Walmdach und seiner
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