Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
Höhlenlagerung ist.«
»Bei gleichbleibenden klimatischen Bedingungen reift der Käse harmonischer, sein Teig trocknet nicht in dem Maße aus wie bei der üblichen Lagerung. Die langsame Gärung macht den Emmentaler mürbe und holt den Geschmack aus der Milch heraus. Aber nach zwölf Monaten beginnt er zu tränen und bildet Salzkruste in den Löchern. Er altert eben wie ein guter Wein.
Inzwischen gibt es nicht mehr genug Milch für die Emmentalerproduktion, weil der Aufwand für die Herstellung von Konsummilch geringer ist. Moloko leidet unter Lieferengpässen. Aber meinen Käse wollen sie nicht. Zu wenig Kontrolle über das Verfahren, meinen sie.«
Auf dem mittleren Regal lag ein aufgeschnittener, geviertelter Laib, der im Scheinwerferlicht goldgelb leuchtete. Die Salztränen hatten sich in den aprikosengroßen Löchern zu kleinen Kristallen gesammelt. Werner Eichenberger schnitt mit dem Käsedraht eine Scheibe aus dem Emmentaler und gab jedem ein Stück. Süßlich schwerer Duft von warmer Milch stieg in die Nase. Die salzige, grobkörnige Käsemasse öffnete dem Geschmack von kräftigen Frühlingskräutern den Weg in den Gaumen. Im Abgang überlagerte ein dumpfer Schimmel die Aromen.
»Nasses Gras«, sagte der Käser.
»Und was passiert mit dem anderen Laib?«, fragte Nicole.
»Den muss ich zu vier Franken das Kilo nach Langnau in die Schmelzkäseproduktion verkaufen. Vor drei Monaten ist der Betrieb von Moloko übernommen worden.«
»Du verkaufst nun also deinen Käse wieder derselben Firma, die dir den Vertrag gekündigt hat?“ Müller wurde sich der Dramatik der Situation bewusst.
»Ja. Aber ich bekomme nur noch etwas mehr als die Hälfte dafür.«
»Das wäre doch Grund genug für einen Mord«, sagte Nicole. Sie wollte es als Witz formulieren, aber in der Düsterheit dieser Höhle bekam es einen ganz anderen Tonfall.
»Ja«, sagte Eichenberger zu ihrer Überraschung. »Aber nicht an Housi. Da hätte mir schon einer von der Firmenleitung vor die Flinte laufen müssen.«
Auf dem Rückweg fiel ihnen – einsam im Gelände – ein Denkmal auf, das sie auf dem Hinweg nicht beachtet hatten, weil es hinter einer Tanne neben einem Kiesplatz stand, der früher als Grillecke genutzt wurde und heute zum Abstellen von Autos diente. ›Rudolf Minger‹ war im unteren Teil in den Stein gemeißelt. Aber der Sockel war viel zu hoch geraten, sodass man dem ehemaligen Bundesrat der Bauern-, Gewerbe-und Bürgerpartei unter den ausladenden Rock aufs Granitgemächt blickte statt in die starren Augen, mit denen er dem Schattgraben und den heutigen Anhängern der Schweizerischen Volkspartei seinen Segen erteilen sollte. Erstaunlicherweise kümmerte sich keiner der Parteigänger um das Bildnis des historischen Idols, sodass Rüedu langsam Moos sowie eine Art grüner Flechten ansetzte, die ausgerechnet in der linksgrün regierten Hauptstadt Bern dazu dienten, die Umweltbelastungen zu dokumentieren.
Donnerstagabend, 21.9.2006
Der Wirt, Heinz Zürcher, hatte recht behalten mit seiner Vermutung. Am Donnerstagabend waren alle wieder da. Die Neugier hatte die Angst überwogen. Während Müller sein Abendessen verzehrte – Hamme mit Lauch-Rösti, eine gewagte Kombination in diesem Teil der Welt, die denn auch von niemand anderem bestellt wurde –, blieb es an den Tischen in der Gaststube ruhig. Der Getränkeumsatz allerdings war hoch, der Wirt und Nicole konnten sich der Bestellungen kaum erwehren, als ob die Bauern von gestern her etwas gutzumachen hätten. Bedächtig sog der eine oder andere an seinem Stumpen. Bis hierher waren die Anti-Raucher-Kampagnen noch nicht gedrungen, der Genuss des Tabaks trennte nach wie vor die Hektik des Alltags von der Bedächtigkeit des Nachdenkens. Und die Worte wollten heute Abend gut überlegt sein.
Einer der Trinker vom Nebentisch hob sein Weinglas und prostete Müller zu, als der Messer und Gabel in den Teller legte.
»Na, Herr Detektiv, haben Sie den Käser schon verhaftet?«
Alle lachten.
»Ich verhafte niemanden, das ist Sache der Polizei.«
»Oh, er ist ein vornehmer Herr. Er lässt andere für sich arbeiten.«
»Warum sollte ich den Käser verhaften?«, fragte Müller zurück. »Der Bähler Hans ist doch an einem Unfall gestorben.«
Die vier vom Nebentisch winkten ihn zu sich heran, einer füllte sein Glas.
»Ein Unfall?«, sagte einer, der sich Graber Ulrich nannte, und er sagte es bedächtig genug. Dann stellte er reihum seine Kollegen vor: Graber Rudolf, sein Cousin, und
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