Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ihm gehalten hatte, ihm Kälber geboren jedes Jahr, ihm Milch geliefert jeden Tag, und dann noch Miss Schöneuter war an der Oberemmentaler Herbstviehschau 2004. So steht die Geschichte nicht in der Bibel. Aber vielleicht haben Kühe auch einen rächenden Gott, keinen liebenden, auch wenn der Bauer von Gottes Liebe ebenfalls nicht überzeugt ist, als er jetzt den Preis hört, den er für das brüllende Tier lösen soll. Deshalb schlägt er einmal mehr zu als nötig, damit das Vieh Ruhe gibt.
»Lass gut sein, Fredu«, sagte einer.
Der Angesprochene gab zurück: »Wirde wou wüsse, was i tue!«
Natürlich hilft es, wenn man sich einen langsamen Dialekt vorstellt. Aber selbst wenn man sich an den langsamsten Sprecher des eigenen Dialekts erinnern würde, hätte Fredu noch einen draufgegeben, was die Langsamkeit betrifft. Und das will in dieser langsamen Gegend etwas heißen, wenn der Zweitlangsamste über den Langsamsten sagt, falls er ihn wegrennen sieht: »Guck mal, der Fredu rennt schneller, als er redet.« Wobei, der Fredu führte heute ein vergleichsweise rasantes Mundwerk, weil er nämlich die Mitteilung bekommen hatte, eines seiner Guschti sei über die Straße hinausgeraten und nun abgängig. Das bringt selbst den langsamsten Kurzenauer in Wallung, wenn seine Kuh schneller denkt als er selber.
Nicole zog Heinrich am Ärmel seines Jacketts zum Wirtshaus hinüber, vor dem ein schwerer Findling lag, der offenbar zu einem Gedenkstein umfunktioniert worden war. Jedenfalls las Müller auf einer Metallplakette den Namen von Ueli Galli und sein Todesjahr 1635. Von ihm hatte er schon gehört, vom Bauernrebell aus dem Eggiwil, der sich gegen die Berner Burger erhoben hatte und mit den Luzernischen unter der Führung von Niklaus Leuenberger eine Bauernarmee von 16000 Mann anführte, die trotz ihrer starken Mannschaft mit ihrer rustikalen Ausrüstung gegen das Burgerheer von Anfang an keine Chance hatte. Galli, Leuenberger und viele andere bezahlten das Abenteuer mit ihrem Leben oder mit der Verbannung.
Neben Müller stand plötzlich einer der Bauern, der gestern im Bären gesessen hatte. Er nickte mit dem Kopf auf die Plakette zu und sagte: »Das war noch einer, der auf die Hinterbeine gestanden ist gegen die Obrigkeit. Solche Leute könnten wir heute brauchen und nicht Waschlappen, die nur am Stammtisch den Mund aufmachen. Der Bauer lebt im Spannungsfeld von staatlicher Unterstützung, stagnierendem Konsum, überteuerten Futtermitteln, Samen und Pestiziden sowie unberechenbaren Wetterkapriolen. Während er immer noch glaubt, er sei ein freier Unternehmer, der sein Geschick in eigenen Händen halte, ist er in Wahrheit ein Rohstofflieferant, den Weltmarktpreisen ausgesetzt wie jeder Produzent in der Dritten Welt. Da kann schon mal eine Sicherung durchbrennen.«
Wie um diese Worte zu bestätigen, streckte ein weißhaariger Mann den Kopf aus einem Fenster im ersten Stock. »Der Berg ist da! Der Berg zeigt nach oben. Hast du ihn schon gesehen?«, fragte der Alte und zeigte auf die Schrecknadel und die Alpengipfel im Süden. Dort standen tatsächlich Berge, wie sie schon seit Zehntausenden von Jahren dastehen mochten.
»Jeder Berg zeigt nach oben«, nahm Müller die Frage auf.
Aber der Mann an seiner Seite sagte: »Bemühen Sie sich nicht. Es ist das Einzige, was mein Vater seit zwei Monaten von sich gibt.«
Jemand zog den Alten am Hosenträger nach hinten.
»Der Berg ist da! Der Berg …“, hörte Heinrich noch, dann wurde das Fenster geschlossen.
»Kommt rein«, sagte der Mann in der blauen Arbeitsjacke und dem grauen Beret auf dem Kopf und zog Nicole und Heinrich an der Wirtschaftstür vorbei zum Seiteneingang und von dort in seine eigene Küche. »Fritz und Marie Bär« stand am Holzschild neben der Tür, und Müller erinnerte sich, dass Fritz mit seinem Cousin am Stammtisch gesessen hatte.
»Nehmt Platz, ich bin gleich wieder hier«, sagte Bär und stieg die Treppe in den oberen Stock hinauf. Man hörte ein Rumpeln aus der Kammer und ein paar laute Worte.
»Sie pflegen den Vater hier«, sagte Müller, aber er sprach es eher wie eine Frage aus.
Nicole lächelte ihn an und erzählte eine Geschichte: »Der Bauer sitzt im Altersheim, das von einer thailändischen Prostituierten im Ruhestand geleitet wird, was ihn nicht weiter beunruhigt, geht es doch auch bei den Kühen nicht immer so zu, wie es in den Zehn Geboten steht und es der Pfarrer für richtig hält. Es stört den Altbauern aber ganz gewaltig, dass er
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