Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
hören will. Aber Henry kennt sie noch nicht, und er bezahlt bestimmt eine Runde.
Das heißt, Henry kennt die Ereignisse schon. Aber er kennt sie im Original, er war ja mit dabei. Er kennt aber nicht die durch die Jahrzehnte stillen Vergessens geläuterte Version. Er kennt nicht den Selbstbetrug, er kennt nicht die Beschönigung. Eigentlich waren die Geschichten weder spektakulär noch glamourös, sondern stinklangweilig.
Aber schön!
Zum Glück war der Mensch auf Verklärung angelegt, sonst wäre die Erinnerung an die Jugend unerträglich.
»Erzähl noch mal die Story vom Nacktplakat, mit dem ihr gegen die christlichen Fundamentalisten angetreten seid«, bat Henry und fügte an, »du warst doch dabei, Christina.«
»Darüber macht man keine Witze«, antwortete die Angesprochene beinahe etwas böse.
Dann räusperte sich Fredu und sagte, nachdem er sein Glas geleert und ein frisches Bier bestellt hatte: »Du willst etwas über Therese Waber wissen. Die ins Emmental geheiratet hat, damals. Ich kenne ihren neuen Namen nicht. Sie war nämlich in den letzten Wochen öfter mal hier, hat von ihrem Leben erzählt, von enttäuschten Hoffnungen und von alten Wunden, die wieder aufgebrochen sind.«
Plötzlich wusste jeder etwas beizutragen.
»Eines Abends war doch dieses Mädchen mit seinem Freund da, einem seltsamen Kerl, etwas unheimlich. Als Therese unerwartet auftauchte, sind die beiden so schnell abgehauen, dass sie nicht mal die Zeche bezahlt haben.«
Henry blieb aufmerksam. »Wie sahen sie denn aus?«
»Wie junge Leute eben aussehen. Er wirkte ungepflegt mit seinen strähnigen blonden Haaren …“
„… und dem irren Blick.«
»Sie passten nicht ins Pyri.«
»Die waren auf der Suche nach Drogen.«
»Redet nicht um den heißen Brei herum«, sagte Kröte. »Es war jenes Mädchen, das man mit einer Überdosis auf der Großen Schanze gefunden hat. Es gab ein Foto in der Zeitung. Sie hatte keine Ausweise bei sich.«
»Warum macht ihr daraus ein so großes Geheimnis?«, fragte Henry. Denn bei dem Jungen musste es sich um Beat Eichenberger handeln. Aber Therese Bär war wohl eher wegen dem Mädchen hier, dessen Identität immer noch unklar war.
»Weißt du«, sagte Christina, der das Älterwerden nicht gut bekommen war, »Aschi hat sie gekannt. Er hat aber die Polizei nicht informiert.«
»Und wo ist er jetzt?«, wunderte sich Henry.
»Seitdem traut er sich nicht mehr her, weil er weiß, dass sie kurz danach im Spital gestorben ist. Er hat gemeint, die Waber sei auf der Suche nach den beiden. Er wolle hier keine alten Geschichten aus der Dunkelheit scheuchen.«
Fredu ereiferte sich: »Bloß, weil er immer wieder behauptet, er habe die Therese mal flachgelegt. Der Schwätzer. Die hat ihn so wenig an sich rangelassen wie uns alle.«
»Nur diesen Bauern da. Auf den war sie ganz wild«, ergänzte Kröte, und ein wenig Neid war aus seiner Stimme zu hören.
Spät in der Nacht stellte er Baron Biber einen Teller mit verdünntem Kaffeerahm hin und beobachtete, wie er sich – im Bewusstsein seiner konkurrenzlosen Sicherheit – in einer kreisförmigen Bewegung der Futterschale näherte und erst nach zwei Umrandungen und ausführlichem Riechen von der Köstlichkeit Besitz ergriff.
Da klickte es in seinem Gehirn. Er musste so bald wie möglich mit Nicole darüber sprechen. Wer könnte ein Interesse daran haben, wie die Katze um den heißen Brei zu streichen, aber selber dabei nicht in Erscheinung zu treten? Wer konnte geschickt Verdächtigungen platzieren, andere Personen vorschieben und selber im Hintergrund agieren? Müller musste das fallweise Denken über den Haufen werfen und davon ausgehen, dass alle vier Todesfälle eng miteinander verstrickt waren. Nur so würde er der Lösung einen Schritt näher kommen.
Samstagnacht, 23.9.2006
Das dritte Opfer starb schnell und leise, unbemerkt von der aufgeschreckten Öffentlichkeit. Es war der Gemeindeschreiber Jürg Fankhauser, der in seinem Kummer über die derart schnell abnehmende Zahl der Gemeindemitglieder zu viel Bätziwasser zu sich genommen hatte und auf dem Heimweg vom Löwen bei der oberen Dorfbrücke in die Kurzen gestürzt war.
Inzwischen glaubte niemand mehr an einen Unfall oder einen unglücklichen Umstand. Sofort war von Mord die Rede, und man wünschte sich den Detektiv zurück, den man erst am vorherigen Nachmittag zum Teufel gejagt hatte. Bald ging auch das Gerücht, die beiden früheren Todesfälle hingen mit der Sache Fankhauser zusammen. Denn
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