Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
der Wildeggbauer konnte keine Schuld haben. Er saß ja im Untersuchungsgefängnis. Also bewegte sich ein Mörder frei im Kurzgraben. Mehr Unruhe hätte man nicht ins Dorf bringen können.
Aber der Reihe nach: Im Löwen erinnerte man sich daran, dass der Jürg spätabends in die Wirtschaft gekommen war, sich auf die Ofenbank gesetzt hatte und dem Wirt sagte, er solle die Bätziflasche gleich stehen lassen. Er, der Gemeindeschreiber, müsse sich etwas Mut antrinken.
Die anderen Gäste hatten gelacht und dachten an die dorfbekannten Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die ausgerechnet auch Therese hieß, was dem guten Manne offensichtlich schlecht bekommen war. So gab es dem ›Mut antrinken« nichts beizufügen, da ja inzwischen jeder den Ernst Bär für einen Mörder hielt.
Gegen Mitternacht dann – die anderen hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht – verließ Jürg Fankhauser als letzter den Löwen. Keiner sah ihn auf seinem Weg in den Tod. Er musste erst an der Kurzen entlang gegangen sein, um nach knapp 100 Metern den Weg nach links über die gedeckte Holzbrücke zu nehmen. In den Häusern, die er passierte, schliefen schon alle, jedenfalls war die Straße dunkel, als der Wirt kurze Zeit später den selben Weg abschritt, weil er beim Friedhof noch etwas zu erledigen hatte, wie er später aussagte. Denn Wirte wohnen üblicherweise in den oberen Stockwerken des Betriebs. Aber der Löwen-Witt war bekannt dafür, dass er nach Feierabend eine halbe Stunde spazieren ging, um den Rauch der Stumpen aus den Lungen zu pusten, wie er jeweils betonte, wenn ihm doch jemand begegnete. Dass ihn dabei immer ein Kessel voller Schlacht-und Restaurantabfälle sozusagen begleitete, davon wollte er keine Kenntnis haben. Auch nicht, dass diese Abfälle immer wieder in der Kurzen – oder, wenn ihn jemand beobachtete – in der für Grünabfälle gedachten Bretterlade beim Friedhof verschwanden, das sagten ihm nur böse Zungen nach. Allerdings hatte die Anzahl der Ratten am Ufer des Flüsschens in den letzten Monaten rasant zugenommen, ja, die unliebsamen Tiere waren zu einer richtigen Plage geworden. Und was der Löwen-Wirt in seinen Nacht-und-Nebel-Aktionen entsorgte, wurde zum Auslöser einer Überpopulation der Nagetiere, deren nicht einmal mehr die Katzen Herr wurden, so sehr waren sie des sauren Fleischs der Ekeltiere überdrüssig geworden. So erhielt denn mehr als eine Speisekammer unwillkommenen Besuch, und mehr als eine Speckseite war bis auf die Knochen abgenagt.
Als der Löwen- Wirt nun auf die Holzbrücke trat, fiel ihm gleich auf, dass eine der Planken – von denen ja bereits einzelne lose hingen – durchgebrochen war. Er dachte sich weiter nichts dabei, leerte sein Eimerchen in die trägen Fluten der Kurzen, stützte sich am Boden in etwas Klebrigem ab, und als er wieder aufstand, bemerkte er, dass es Blut war. Es war aber nicht sein eigenes. Schnell verließ er den ungastlichen Ort und trabte nach Hause zurück, von wo er sich nicht mehr wegtraute, bis er am nächsten Morgen die Schreckensnachricht hörte.
Jürg Fankhauser musste durch die Bretterlücke in das Bachbett gestürzt sein. Dank des niedrigen Herbstwasserstandes blieb er im Kies liegen. Andernfalls hätte ihn die ab und zu reißende Kurzen ohne weiteres in die Ilfis und von da weiter über Langnau hinaus in die Emme spülen können. Weiter hätte ihn das Wasser ins Mittelland hinunter gezerrt in die Aare, wo er wohl im einen oder anderen Wasserkraftwerk hängen geblieben wäre.
Aber eben: Der Fankhauser Jürg blieb, wo er zeit seines Lebens gewesen war. In seinem Heimatdorf Kurzenau, unter der historischen Holzbrücke, bedeckt mit den Abfällen aus der Küche des Löwen, innerlich noch ein paar Minuten vom Bätziwasser aus derselben Küche aufgewärmt.
Damit aber war die Sache begreiflich nicht abgetan; wenn die Könige auch schweigen, deretwegen redet das Volk doch.
Hermann Blaser und Hans Zaugg hatten eine gesegnete Nachtruhe, denn erst der Pfarrer, der kurz nach acht in die Kirche eilte, fand den Toten im Wasser liegend. Er konnte jedoch nicht ausreichend erklären, weshalb er von dieser Seite des Dorfes zur Predigt kam, befand sich das Pfarrhaus doch direkt neben der Kirche, und einen Grund für einen frühmorgendlichen Spaziergang gab es eigentlich nicht.
Heute gebe es nichts, es sei ein Pfaff vorbeigefahren, die seien, was rote Schnecken auf den Wegen, bedeuteten schlecht Wetter.
Dennoch trafen die beiden Polizisten knapp nach dem
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