Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
unangenehmen Seite kennen!«
»Leute, beruhigt euch bitte«, sagte Blaser mit seinem dröhnenden Bass, der ihm den notwendigen Respekt eintrug. »Wer nichts zu verbergen hat, wird durch die Tests entlastet.«
»Wir entlasten uns gerne selbst, dafür brauchen wir keine Tests!«, rief ein anderer.
Müller sah ein, dass es der richtige Moment für einen Rückzug war. Er schlich zum Hintereingang des Hotels, holte seine Sachen und verschwand in Richtung Auto, das – wie er nun bemerkte – bereits zerkratzt worden war.
»Du hast die Therese auf dem Gewissen!«, schrie der Käser, als Müller in seinen Opel einstieg. »Ohne deine Anwesenheit wäre der Ernst nie so sehr unter Druck geraten.«
Zaugg brüllte in die Menge: »Jetzt seid mal ruhig. Wir müssen die Tests machen, weil wir noch mehr Blut auf dem Beil gefunden haben. Vielleicht war’s gar nicht der Ernst.«
Nun ging der Tumult erst recht los.
Blaser hielt den Detektiv an und stieg zu ihm in den Wagen, ließ das Seitenfenster herunter und verscheuchte die Leute beim Wegfahren.
Als sie Richtung Kurzschachen unterwegs waren, sagte Blaser: »Ich muss dir etwas erzählen. Vielleicht kannst du in Bern zusätzliche Informationen besorgen. Es stimmt nicht, dass die älteren Testergebnisse aufbewahrt worden sind.«
»Aber man hat sie auch nicht gelöscht«, sagte Müller.
»Nein. Es ist viel schlimmer. Sie sind von Leuten gestohlen worden, die sich als Ahnenforscher der Mormonen ausgaben. Man hat sie ihnen zur Verfügung gestellt. Sie wissen ja, welche Marotte die ›Heiligen der letzten Tage‹ haben. Sie erstellen Listen von Verstorbenen, taufen sie im Nachhinein und machen sie so zu Mitgliedern ihrer Kirche.«
»Welchen Nutzen aber hätten die Mormonen von DNA-Screenings?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls sind die Daten nicht wieder aufgetaucht. Deshalb müssen wir neu testen. Aber du hast natürlich recht, die Frauen müssten auch dabei sein.«
Müller drehte am Radioknopf. Zeit für die Vieruhrnachrichten. Der erneute Mord in Kurzenau erregte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aber auch die DNA-Tests gaben zu reden. Die SVP erklärte, sie kämpfe zwar entschlossen gegen die Kriminalität, aber die Emmentaler Bauernsame sei gesund und werde bereits durch den Subventionsabbau in der Milchwirtschaft stark benachteiligt. Da sei das Screening eines ganzen Tals das falsche Signal an die Landbevölkerung. Die SP gab dem Druck der Parteifrauen nach und begrüßte die Absicht der Polizei, die Untersuchung auf Männer einzugrenzen, da von ihnen nachweislich ein viel größeres Gewaltpotenzial ausgehe, besonders in einer Gegend mit gefestigten familiären Strukturen. Die FDP als liberale Partei stellte sich gegen flächendeckende Maßnahmen und wollte nur Verdächtige untersuchen lassen. Die Meinung anderer Parteien war nicht gefragt. Ämmitaler Ruschtig überlegte sich, welche Produkte beim vorgesehenen Großanlass angeboten werden könnten, und Pro Emmental setzte für die Dauer der Ermittlungen die eben gestartete Werbekampagne aus.
Hätte man die Blindstellen aller Parteistrategen, Interessenvertreter und Bedenkenträger berücksichtigt, wären am Schluss nur noch zwei Gruppen ohne Lobby zum Screening angetreten: ein paar Tamilen aus der nahe gelegenen Biscuitfabrik und einige meist über 80-jährige Knechte aus dem Dienstbotenheim Oeschberg.
Samstag, 23.9.2006
Heinrich Müller hatte den Kantonspolizisten Hermann Blaser kurz vor Ladenschluss in Lützelflüh abgesetzt und war nach Bern weitergefahren. Die Wolkendecke hatte sich geschlossen und die Temperatur war empfindlich gesunken. Der Detektiv stellte sein Auto auf einen blauen Parkplatz im Quartier, für den er eine Monatskarte gelöst hatte. Als er ausstieg, fröstelte ihn wegen der Bise, die aufgekommen war. Trotzdem blieb er stehen und beobachtete eine kleine Frau um die 30 mit geflochtenen Haaren, die eben eine Plastiktüte voller Abfall mit nur schlecht versteckter Wut in einen offenen Eimer geschmissen hatte. Sie schlenderte zurück nach Hause, 200 Meter gegen den Wind, der ihren Bademantel bauschte, auf dem Kopf eine Wollmütze, unter der hervor strähnige Haare über den speckigen Kragen fielen. Da sah er sie gehen, barfuß in Sandalen, nur um den Müll gebührenfrei zu entsorgen.
Kaum war die Frau in einem unscheinbaren Wohnblock verschwunden, stieg aus einem eben eingeparkten Offroader ein Mann in Winterjacke aus und begab sich um den Wagen herum zum Kofferraum. Er trug eine lächerlich
Weitere Kostenlose Bücher