Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
ein Polizist den Sonntag zum Arbeitstag für Heinrich Müller machte, indem er ihm zu verstehen gab, dass ihn der Streifenwagen unten vor der Tür ohne Verzug in den Kurzgraben fahren würde.
Heinrich Müller warf sich in die Kleidung von gestern und schnappte sich, da es für ein Frühstück nicht reichte, ein Stück vom zwei Jahre alten Justistaler Alpkäse, den er wie immer bei Natalie, der Sigriswiler Biobäuerin, gekauft hatte. Salzig und süß zugleich strömte der Geschmack durch den Mund, eine frische Säure unterstrich die jungen Bergkräuter, im Gaumen Licht und Sonnenwärme.
Im Polizeiwagen wartete bereits Bernhard Spring, Störfahnder der Berner Kantonspolizei. Der groß gewachsene Mann mit dem kantigen Gesicht und dem stechenden Blick war ein so genannt floatender Ermittler, den man jeweils dort einsetzte, wo es einen wie ihn gerade brauchte. Auch dass er aus dem Beweisfundus jeweils etwas für das von ihm geleitete Kriminalmuseum abzweigte, sah man ihm nach. Schließlich hatte mancher angehende Polizist dort Entscheidendes für seine Ausbildung gelernt.
Müller kannte Spring aus früheren Jahren, als beide bei der Bereitschaftspolizei Dienst taten. Sie waren sich nie in die Quere gekommen und hatten kaum miteinander zu tun gehabt. Heute unternahmen sie die erste gemeinsame Fahrt. Der Detektiv berichtete, was er an Fakten wusste und welche Schlüsse er bisher aus seinen Ermittlungen gezogen hatte. Schließlich war dies längst kein Fall mehr für seine persönliche Profilierung. Im Gegenteil: Bei der Versicherung waren damit keine Lorbeeren zu gewinnen. Dennoch drängte es auch ihn nach einer schnellen Lösung.
Müller erzählte von den religiösen Drohungen, und auf Springs Frage, ob er sie denn ernst nehme, meinte er: »Eigentlich nicht. Religion betreibt jemand nur aus Eigennutz. Das einzige Ziel ist es, sich einen Vorteil zu verschaffen, einen Vorteil, den man im Jenseits ansiedelt, damit man mit seinem Egoismus im Diesseits nicht zu sehr auffällt.«
»Eine gewisse Frömmigkeit soll man den Menschen nicht ausreden. An welche Ideale könnten sie sich denn halten, wenn die religiöse Ethik fehlt?«, wollte Spring wissen.
»Ethik und Moral. Dass ich nicht lache!« Müller ereiferte sich. »Ich möchte wissen, wie viele der heiligen Frauen, die von Malern in früheren Jahrhunderten in lasziven Posen dargestellt worden sind, in Wirklichkeit Damen der leichteren Sorte waren. Anders gesagt: Wie viele Huren werden in den Kirchen des Abendlandes als Heilige angebetet?«
Spring war für die Diskussion nicht gewappnet. Seine Gedanken kreisten um den Toten aus der letzten Nacht. Der Fahnder zog sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts und ließ sich mit dem Erkennungsdienst am Tatort verbinden, als der Wagen in den Kurzgraben einbog und Müller dem Fahrer ein Zeichen gab, er solle anhalten.
Sonntagmorgen, 24.9.2006
Heute Nacht waren meine Träume wieder mal schlechter als das Fernsehprogramm, dachte Nicole, als sie am frühen Sonntagmorgen erwachte. Sie hatte eine imaginäre Karte des Emmentals erstellt mit Orten wie Brästenegg, Bösigershus, Bluttenried, Schmalenegg, Chrummholzbad, Bärschwand, Schwesterboden, Wabersbach, Wallestullen. Aber aus dem Schlaf riss sie eine Frau Tod, ein Gerippe, mit brüchiger Haut überzogen, ein Schädel mit tief hegenden, blicklosen Augen. Sie war blitzschnell wach und sich einer Gefahr bewusst, die sie jedoch nicht benennen konnte. Weshalb war es kein Schnitter Tod, warum führte die Frau keine Sichel mit sich?
Nicole wusste noch nicht, dass die Wirklichkeit schlimmer als alle Träume war. Sie öffnete das Fenster ihrer Dachkammer und stieß die braunen Läden auf. Die Bise hatte den ersten Herbstnebel und die Kälte ins Tal hineingedrückt. Nicole würde lange auf ein paar wärmende Sonnenstrahlen warten müssen.
In der Gaststube trank sie ihren Morgenkaffee und nahm ein Frühstück aus Brot und jungem Emmentaler-Käse zu sich, dessen große Löcher es ihr angetan hatten. Das Haselnussaroma des geschmeidigen Teigs blieb noch lange an ihrem Gaumen haften, während sich der Frühlingsblumenduft des Käses gegen den abgestandenen Zigarrenrauch nicht durchsetzen konnte. Die vom Schweiß der Arbeitshosen getränkten Holzbänke erinnerten in ihren Ausdünstungen an tagelang nicht gewaschene Socken in einer Essiggurkenlake. Aus der Küche, wo der Wirt bereits fürs Mittagsmenu tätig war, drang der stumpfe Geruch von kaltem Speck, müder Salbei und aufgeweichten
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