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Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Titel: Heinrich Mueller 01 - Salztraenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Lascaux
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Dörrbohnen.
    Dann, als Nicole eben beim letzten Schluck Kaffee war, brach das Chaos über den Bären herein. Statt in der Kirche saßen die Leute bald auf den Stühlen und Bänken, brachten neue Duftnoten mit, bestellten Bier und Weißwein in ungewohnten Mengen. Lilly war zuständig fürs Auftragen. Man hatte sie in ihren Gedanken gestört, die heute Morgen ausschließlich ihren beiden Katzen galten, den zwei Ziegen und der Hand voll Hühner, für die ihr ein missliebiger Nachbar das Schlachten angedroht hatte, wenn sie noch einmal in seinem Garten nach Würmern graben würden. Die meisten Leute, so viel war Lilly klar, interessierten sich für Tiere nur, wenn sie in der Bratpfanne oder auf dem Grill lagen.
    Während Lilly die Getränke servierte, erfuhr sie, was in der letzten Nacht geschehen war. Es erschreckte sie nichts mehr im Kurzgraben, alles drängte darauf, einen Weg aus dem Schattenloch hinaus zu finden. Sie wünschte, sie wäre zehn Jahre jünger, zehn Kilo leichter, 100 Prozent frecher, wie diese Fernsehmoderatorin, welche die Leute zu Telefon-Quiz-Shows animierte: »Füüftuusig Schtutz sind im Tschäckpott! Chömed. Liiütet aa! Wo! sind! er! Ich warte …“ Auf Lilly warteten nur noch Kaffeerahmdeckelsammlerinnen, Bierbauern und Weißweinsüffel. Hergegen was ist mit der Schönheit? Die ist übernächtig, und man hat viele Exempel, dass es in kurzer Zeit aus den Schönsten die wüstesten alten Hexen gegeben hat und böse nota bene.
    Auf Nicole hingegen wartete die Welt. Aber erst musste sie wieder Lucy werden. Lucy in the Sky with Diamonds. Dafür jedoch musste sie raus aus diesem Lärm und Gestank, weg von den bluttriefenden Geschichten und haltlosen Verdächtigungen. Denken können.
    Im Kurzgraben gab es neben dem Schulbus keinen öffentlichen Verkehr, auch ein Taxi musste man in Langnau bestellen, was den Preis entsprechend erhöhte und den Aufwand nur lohnte, wenn man etwas zu transportieren hatte. Also ging man zu Fuß, wenn man kein eigenes Auto besaß.
    Nicoles Transportgut waren Gedanken, ihre Füße nahmen den Hintertürenweg , der außerhalb des Dorfes knapp neben dem steilen Abhang unterhalb der Wildegg in 100 Metern Abstand zur Straße nach Norden in den Schachen und somit ins breitere Quertal der Ilfis führte. Es empfing sie frische Luft, vom nachvibrierenden Schlag der Kirchenglocken ionisiert. Die tibetanischen Gebetsfähnchen flatterten im Wind, der den beißenden Gestank von frischem Urin mit sich trug, den ein Kater am Holzzaun hinterlassen hatte. Bald überdeckte der Duft von säuerlicher Molke, der aus einem Bauernhof drang, die unangenehme Spur der Katze, bevor das Aroma der Sonntagsbraten einen friedlichen olfaktorischen Abschied von den letzten Häusern von Kurzenau erlaubte.
    Nicole öffnete die Nase, so weit es ging. Sie hatte in ihrer Diplomarbeit bisher vor allem auf Gespräche gesetzt und die sinnlichen Eindrücke vernachlässigt. Bereits 1794 hatte der Pariser Hygieneprofessor Jean-Noël Halle während eines Spaziergangs entlang der Seine das Prinzip einer Geruchskarte entwickelt, die sehr viel über den Zustand der jeweiligen Gegend aussagte. Die Idee war etwas in Vergessenheit geraten. Aber Nicole, der viele Gerüche gerade aus der Landwirtschaft neu waren, wollte sie wieder aufnehmen und als Teil ihrer ethnologischen Forschung betrachten.
    Nicole setzte sich auf eine Bank in die ersten Sonnenstrahlen, an eine geschützte Stelle, wo die Bise keine Chance hatte, und las im Buch Mord im Alpenglühen , eine Geschichte des Schweizer Kriminalromans, das sie aus ihrem Zimmer mitgenommen hatte. Sie interessierte sich für den Anhang, in dem es um eine poetologische Differenz zwischen Stefan Brockhoff und Friedrich Glauser ging.
    Nicole trat für eine ernsthafte Auseinandersetzung und somit für Friedrich Glauser ein, der in einem ›Offenen Brief‹ vom 25. März 1937 auf Brockhoffs ›Zehn Gebote für den Kriminalroman* geantwortet hatte, die am 5. Februar desselben Jahres in der Zürcher Illustrierten erschienen waren. Sie las: »Ich habe immer gefunden, das Alte Testament habe mit der Aufstellung der Zehn Gebote – deren Übertretung, nebenbei bemerkt, uns immer noch den Stoff für unsere Romane liefert – einen bedauerlichen Präzedenzfall geschaffen. Alle Leute, die den dunklen Drang verspüren, ihren geplagten Mitmenschen Vorschriften zu machen, fühlen sich seither verpflichtet, ihr Thema in zehn Teile zu gliedern, auch wenn es mit fünf, vier oder drei Geboten

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