Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
erschöpft wäre.«
Nie veröffentlicht, höhnte Lucy, kein Wunder, humorlos und ironiefrei, dieser Glauser. Dann zitierte sie Stefan Brockhoff: »Ein Kriminalroman ist ein Spiel. Ein Spiel zwischen den einzelnen Figuren des Romans und ein Spiel zwischen Autor und Leser. Auf den ersten Blick scheint der Autor sehr im Vorteil. Er teilt die Karten aus und wacht eifersüchtig darüber, dass sein Partner nur eine ganz bestimmte Auswahl in die Hand bekommt. [ … ] Passen Sie gut auf, und wenn Sie merken, dass ich gegen die Spielregeln versündige, beschweren Sie sich bei mir.«
Nicole gab zurück: »Aber wie es auch echten Kirsch und Façon gibt, gerade so gibt es die echte Spannung und die Fuselspannung – verzeihen Sie das neue Wort. [ … ] Nicht der Kriminalfall an sich, nicht die Entlarvung des Täters und die Lösung ist Hauptthema, sondern die Menschen und besonders die Atmosphäre, in der sie sich bewegen.«
Aber Lucy konterte: In einem Brief an Anna von Fischer vom 13. August 1937 sagt Glauser jedoch: »Il faut savoir jouer le jeu, wie der Franzose sagt. Man muss das Spiel spielen lernen. Jedes Spiel hat seine Regeln – im schönen Schweizerland hängt das Jassreglement an jeder Wand. Nun, wir Schreiber müssen nach meist ungeschriebenen Regeln spielen. Oder vielmehr: Zu dem Spiel, das wir mit uns selbst spielen, müssen wir die Regeln selber finden.«
Nicole stand auf der Seite der Atmosphäre, Lucy freute sich am Spiel, und ein Spiel hatte auch sie erfunden. Während der letzten Jahre hatte sie eine Liste von sprechenden Namen angelegt, die besonders entlarvend im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit von Menschen waren. Nun benannte sie die Häuser, die an ihrem Weg lagen, nach diesen Namen. Hier wohnte also der Berufsberater Feyerabend, dort hinten im dunklen Loch die Putzfrau Weissmilch , da drüben der Sporttrainer Müßiggang, im ersten Stock der Autoimporteur Bleifuss. Auf der anderen Seite des Baches hauste die Spitalsekretärin Trost neben dem Scheidungsrichter Bleibtreu und unter der Kochbuchautorin Wurzel. In der Scheune nebenan hat ein Doktor Freud die frühkindliche Sexualität entdeckt. Dagegen waren Pfarrer namens Sorgenfrei und Ficker bereits das kleinere Übel. Ob das auch für Bauern galt, die sich Bär nannten? Das Tal bekam eine ganz neue Topografie. Vielleicht war es Unsinn, aber Lucy war für Unsinn empfänglich. Der machte aus Nicole eine heiter gestimmte Frau, die endlich wieder denken konnte, unbelastet von den Geräuschen, die von allen Seiten auf sie einstürzten, von missliebigen Wortfetzen und harten Befehlen.
Mit jedem Schritt öffnete sich das Tal ein wenig. Die Wiesen wurden breiter, der Hang weniger steil. Die feuchte Erde, die sich nach den letzten Gewittern und dem Rutsch der Grassode aufgetürmt hatte, roch dumpf und schwer, es war der herbstliche Leichengeruch, die sich ankündigende Fäulnis, die bald wie ein undurchdringlicher Teppich über der Landschaft liegen würde. Kurz vor der Schweinemästerei erreichte der Fußweg die Straße, die in einer Kurve in den Schachen hineinbog. Hier führte wirklich der Tod das Zepter, der beißend säuerliche Gestank von Fäkalien vermischte sich mit den Schreien von Hunderten von Tieren, die im Dunkeln gefangen gehalten und gemästet wurden. Das war der Geruch lebender Speckschwarten, die den Konsumenten erst nach ausgiebigem Zusatz von Räucheraromastoffen zugemutet werden konnten.
Neben Nicole bremste ein Polizeiwagen. Sie blieb abrupt stehen und fragte sich bereits, was sie falsch gemacht haben könnte. Da winkte ihr eine Hand aus dem offenen Fenster die Aufforderung zum Nähertreten zu, und mit großer Erleichterung erkannte Lucy Henry Miller, der zu ihr und zu den Kurzenauern zurückgekehrt war. So ein Polizeier, wenn er sein Handwerk versteht, ist ein wichtiger Mann und namentlich auf abgelegenen Höfen ein wahrer Weibertrost. Er weiß zu brichten, was man begehrt, verrichtet alles, was man will, gibt allen recht und besonders den Weibern, wenn der Mann nicht daheim ist und sie über die Männer klagen, er macht für die Mutter den Spion, für die Tochter den Botschafter …
Sonntagnachmittag, 24.92006
Nicole stieg zu den drei Männern ins Auto. Müller berichtete von den neuesten Erkenntnissen, vom Drogentod der jungen Frau und von den bedrohlichen E-Mails. Nachdem sich Spring den Bericht der Spurensicherung angehört hatte, klappte er das Telefon zu. Müller stellte Nicole als seine Assistentin vor Ort vor. Dann
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