Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
gefallen. Das ist ein richtig literarisches Wunder. Geschichtliche Tiefendimension, Leidenschaft, Engagement. Aber als singuläres Ereignis um Therese Bär zu wenig zwingend.«
»Das stimmt. Sonst müssten wir bei mindestens einem weiteren Beteiligten Bezüge nach Bern nachweisen können.«
»Die haben wir nur beim Kantonspolizisten Hermann Blaser. Den habe ich aber auf der Verdächtigenliste nicht drauf.« Müller schmunzelte. »Gibt es aus ethnologischer Sicht Rituale oder gesellschaftliche Vorschriften im Kurzgraben, die jemand verletzt haben könnte?«
»Du meinst, so etwas wie Blutrache?«
»So wild wird’s eher nicht zugehen. Aber irgendetwas in der Art könnte uns weiterbringen.«
»Na ja. Sehr auffällig ist das Tal der Kurzen in dieser Hinsicht nicht. Zwei Werte sind bestimmt wichtig. Erstens: Ein Mann muss sein Gesicht wahren. Zweitens: Ein Mann muss seine Familie schützen.«
»Das alleine wird es nicht gewesen sein. Aber wenn wir nun alles zusammen nehmen?«
»Zum Beispiel?«
»Denk an den Single der Woche. Jemand wird durch das Politplakat aus den Siebzigern gewarnt vor den Verführungskünsten einer Frau, die nun zwar bereits älter ist, aber in ihrer bankrotten Hexenkate auf der Wildegg Männer verzaubern kann, sodass sie Kühe auf ihren Besitzer hetzen, die ihn dann über einen Felsvorsprung stoßen.«
»Einer bekommt Wind von der Sache und nutzt sein Wissen aus, um eine andere Frau zu verführen, zum Beispiel diejenige des Käsers. Der Sohn versucht in seinem religiösen Wahn die Familienehre zu retten, der Vater will sein Gesicht wahren.«
»Das würde bedeuten«, sagte Müller, »dass die beiden zusammengearbeitet haben. Fehlen Ramseiers Frau, der Gemeindeschreiber und seine Tochter.«
»Vielleicht hat Jürg Fankhauser, der ja auch das Zivilstandsamt führt, eine Anhäufung ungewöhnlicher Ereignisse festgestellt, ist misstrauisch geworden und hat auf eigene Faust ermittelt. Oder er wollte sein Wissen einsetzen, um Lindas Drogentod zu rächen. Jedenfalls ist er jemandem in die Quere geraten.«
»Unter einen Emmentaler sozusagen. Was mir nicht gefällt: Die ganze Konstruktion lenkt von den wirtschaftlichen Verhältnissen ab und fokussiert aufs Private. Das könnte einem Dritten zugute kommen.«
Sonntagnachmittag, 24.9.2006
Unbemerkt erhob sich auf der anderen Seite der Wirtschaft ein Mann, der in der dunkelsten Ecke gesessen hatte, und trat zu Müller und Himmel an den Tisch.
»Darf ich mich zu euch setzen?«
Die beiden erschraken, denn es war Werner Ramseier, der da vor ihnen stand, nicht gebeugt von der Last seines Alters, sondern in seiner ganzen Größe aufrecht, in frischer Kleidung. Und in seiner Stimme kein Ton von Verwirrung. Ramseier setzte sich den Detektiven gegenüber.
Im Hintergrund knisterte eine Nadel auf einer Schallplatte. Müller befürchtete das Schlimmste. Der Wirt spielte Erotische Momente , eine LP, die man heute nur noch wegen ihres lasziven Umschlags kaufen würde. Speckig vom häufigen Betasten, schmachtende, leicht bekleidete Ladys und schwarze Soulsänger, die zum Beispiel Barry White hießen. Irgendwo musste noch eine illustrierte Kamasutra -Ausgabe versteckt sein.
»Ich habe alles mitgehört«, begann Ramseier. »Der Schall nimmt in diesem Raum den Weg über die Decke. Man versteht euch also auf der anderen Seite besser als am Nebentisch. Ich muss mich entschuldigen. Ich habe eure Arbeit erschwert.«
»Seine Arbeit«, wandte Nicole ein und zeigte auf Müller. »Er ist der Detektiv.«
Ramseier lachte. »Was nicht ist, kann noch werden.«
»Weshalb solltest du dich entschuldigen?«, fragte Müller.
»Ich habe von Anfang an meine Verwirrung nur vorgetäuscht, weil ich gehofft habe, den Mörder meiner Frau selber zu stellen. Denn es geht um die Hauptpfeiler menschlicher Existenz: Liebe, Familie und Arbeit. Und damit sollte ich wohl doch selber zurechtkommen. Habe ich geglaubt. So groß ist der Kreis der Verdächtigen ja nicht. Aber die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Das habt ihr ja selbst bemerkt. Deshalb ist es Zeit, die Verstellung zu beenden.«
»Liebe, Familie und Arbeit«, wiederholte Müller.
»Fangen wir hinten an«, sagte Ramseier. »In der Antike gilt Arbeit als Mühsal und wird an Sklaven delegiert. Erst das Christentum gibt der Arbeit die Würde zurück, gleichzeitig ist Arbeit auch ein Mittel zur Askese, Beten ist Arbeit, denn der Teufel erwischt nur die Müßiggänger. Luther macht daraus den Beruf, den Ruf Gottes. Der Bauer wird von
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