Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Tourismus-Büro abgeholt hatte, »94,4 Meter lang und 10,5 Meter hoch. Ein bisschen größer als der Tausendblumenteppich.«
»Doch nicht halb so gut erhalten«, sagte Heinrich. »Das Panorama wurde für die Landesausstellung Expo.02 restauriert und in einem riesigen Rostkubus des Architekten Jean Nouvel ausgestellt. Das Gebäude schwamm auf Betonhohlkörpern im See und war nur per Schiff erreichbar.«
»Der Monolith. Ein luftiger Traum auf dem Wasser«, ergänzte Leonie. »Schade, dass du ihn nicht gesehen hast.«
Die Frau an der Bar war etwa 30, hatte pechschwarz gefärbte Haare im Bubikopf-Schnitt der Zwanzigerjahre. Ihr Gesicht schien ebenso dunkel gebräunt wie nach einem Küchenbrand, oder war es der unablässige Zigarettenkonsum der Gäste, der im Kanton Fribourg offenbar noch erlaubt war? Ihr Antlitz wirkte dennoch heiter, und ein freundliches Wort entlockte ihr ein strahlendes Lächeln, was man nicht sagen konnte, als einer der Gäste »Schatzi« rief. Sie sprach Französisch, was einer gewissen Taubheit diesen Ausdrücken gegenüber gleichkam. Sie war von schlanker Gestalt und trug außer Schatzi keinen Namen.
Ihre kräftigen Beine steckten in dunklen Strümpfen, der Hintern wurde von einem Minirock aus Jeansstoff nur knapp bedeckt. Schatzi brachte das eine oder andere Bier, war aber nur mäßig beschäftigt und verschwand immer wieder für Minuten in den hinteren Räumen, wahrscheinlich um zu überprüfen, ob das äußerst bescheidene gastronomische Angebot noch nicht weggelaufen war.
Montag, 22. Juni 2009
Das Chili con Carne hing kalt und klebrig in den Töpfen, die auf kantigen Holztischen bereit standen, um die erschlafften Kämpfer zu stärken. Die Zelte der Marketenderinnen lagen verwaist vor den Toren von Murten, die Belagerung des Städtchens war erfolglos abgebrochen worden.
»Nie mehr koche ich für 200 Männer, denen wegen ein paar Tropfen Blut, das sie nicht mal gesehen haben, der Appetit wegbleibt«, murrte Leonie Kaltenrieder. »Gut, dass die Schweizer Armee nur an Attrappen übt.«
»Bei echten Toten kann’s einem schon die Lust am Essen verschlagen«, sagte eine Matrone, die wohl zu dem Typ zählte: Ich fliege nie, weil ich mir zwei Plätze nicht leisten kann. Sie bohrte mit dem Finger in der Nase und Leonie stellte fest, dass es keinen Mord brauchte, damit ihr der Hunger wegblieb.
Sie fand auch Nicole nicht mehr im Lager. Die hatte sich davongemacht, gleich nachdem das Gerücht vom ungeplanten Tod unter den Komparsen gestreut worden war. Die konnte jetzt wieder Detektivin spielen, während Leonie zwischen den gedeckten Tischen hin und her rannte, sich schließlich an einen der Töpfe setzte und mit der harten Rinde, die sie vom Roggenbrot abgerissen hatte, kalte Bohnen und schleimiges Hackfleisch in sich stopfte.
Ihr gegenüber saß eine junge Frau, die nun zu ihr aufsah. Ein durchdringender Blick aus tief liegenden dunklen Augen, eine Nase von altgriechischer Strenge, klare, kantige und doch weiche Gesichtszüge, volle Kusslippen, schmal und scharf abgegrenzt von der umliegenden Haut. Braune, nachlässig gekämmte schulterlange Haare, katzenhafte Stellung eines geschmeidigen Körpers. Über ihre linke Wange perlte eine Träne.
Und keine Kamera, um das exquisite Bild aufzunehmen.
Leonie brach ein weiteres Stück aus dem Brot und reichte es Schneewittchen, die ebenfalls ihr Essen aus dem Topf löffelte.
»Besser?«, fragte Leonie.
Die Angesprochene nickte und meinte: »Beschissener Start einer Filmkarriere.«
Nicole Himmel hingegen hatte sich das bessere Ende ausgesucht und stand neben Heinrich Müller bei einem spätmittelalterlichen Kriegsgerät. Dort blitzte die Kamera des Hoffotografen, wie er vom Störfahnder Bernhard Spring genannt wurde. Pascale Meyer saß breitbeinig auf dem durchnässten Boden und weichte ihre Hosen ein, während sie Zentimeter für Zentimeter die Umgebung der Leiche nach Spuren absuchte.
»Was ist das für ein Ungetüm?«, fragte Nicole und deutete auf die Feldschlange. Das Geschütz stand auf zwei Rädern. Von der Achse her führte ein Holzbrett nach hinten, wo es in der Erde steckte. In der Mitte ragten turmähnlich zwei Holzpflöcke mit einem Seilzug in die Höhe. In einer Holzrinne lag das beinahe zwei Meter lange bronzene Geschützrohr.
»Deswegen nannte man diese Kanone Feldschlange«, erklärte Müller und deutet auf die Metallspirale, mit der das Rohr umwickelt war. »Mit dem Seil kannst du die Höhe des Rohrs und damit den
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