Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Abschusswinkel regulieren. Je länger das Geschütz, desto genauer kann man zielen, und die Kugel nimmt mehr Geschwindigkeit auf, was trotz des eher kleinen Kalibers von sechs bis acht Zentimetern eine gewaltige Wucht erzeugt, wenn es auf das Kriegsgerät des Gegners trifft.«
»Aber der Rückstoß ist doch enorm«, wandte Nicole ein.
»Ich habe noch nie eine in Funktion gesehen«, meinte Heinrich, »allerdings muss ich auch nicht in der Nähe sein. Der Lärm, das beißende Pulver, der Rückschlag, das heiße Metall. Man konnte jedenfalls nicht viele Kugeln damit abschießen, deshalb musste man sehr genau zielen.«
»Besonders beweglich wirkt das Gerät auch nicht.«
»Du brauchst ein Pferd, um es wegzuschleppen. Deswegen haben die Burgunder die meisten davon bei ihrer wilden Flucht in Grandson verloren.«
»Wir haben ein Problem«, sagte Thierry Coudray, der zu ihnen getreten war.
»Ja«, entgegnete Nicole, »einen Toten.«
»Das auch«, meinte der Regisseur, »aber die Feldschlange stammt aus dem Museum von La Neuveville und ist ein Originalstück aus der Burgunderbeute. Ich hätte sie eigentlich zur Nachbildung benutzen sollen und nicht im Feld verwenden dürfen. Jetzt steht sie im Morast. Und es ist niemand mehr da, der sie ins Trockene bringen könnte.«
Die Bise war abgeflaut, die Sonne zog sich hinter dunkle Wolken zurück, und bald platschten die ersten Regentropfen auf die Köpfe der Anwesenden.
»Ein Sommerregen«, fluchte Bernhard Spring. »Das Letzte, was wir jetzt brauchen können. Sucht großräumig nach einer Pistole!«
Die Leute schwärmten aus, kamen jedoch bald unverrichteter Dinge wieder zusammen. Der Regen wurde stärker, die Tropfen kleiner, fielen schneller. Schließlich flüchteten alle hinunter ins Städtchen und suchten in den von Komparsen überfüllten Kneipen einen freien Platz.
Nur der Regisseur markierte Präsenz, saß auf dem Kanonenrohr. Wenn der Regen sein Gesicht nicht genetzt hätte, hätte man glauben können, es flößen ihm Tränen der Verzweiflung über die Wangen.
Freitag, 26. Juni 2009
Im Empfangsbereich des Alten Waisenhauses saß, geschützt durch eine schusssichere Scheibe, ein gut aussehender Polizist. Hinter ihm an der Wand hingen eine Karte von Skandinavien sowie ein paar wichtige Telefonnummern: Die dargebotene Hand, Tierarztnotruf, Anita, Feuerwehr.
»Wer ist Anita?«, flüsterte Nicole Himmel, als sie mit Heinrich Müller vorüberging. Bernhard Spring hatte sie zum Rapport in sein Büro bei der Police Bern gebeten. Seine Crew und Pascale Meyer hatten bereits Platz genommen.
»Es scheint, dass wir unsere erfolgreiche Zusammenarbeit weiterführen können«, begann er, »auch wenn der Anlass dazu leider erneut unerfreulich ist.«
Der Störfahnder projizierte mit einem tragbaren Beamer ein paar Bilder, die er laufend kommentierte, an die Wand. Zuerst sah man einen Mann in der Kleidung eines Fribourger Soldaten im feuchten Gras liegen. Auf dem nächsten Bild derselbe Mann, ohne Kopfschutz, ein vierzigjähriger Glatzenträger mit Dreitagebart. Ein feines Blutrinnsal von seinem linken Mundwinkel abwärts.
»Wir konnten ihn identifizieren«, sagte Spring. »Thomas Däppen, genannt Tom. 38, wohnhaft im Westen von Bern. Komplizierte Börsengeschäfte.«
»Geht das etwas genauer?«, fragte Müller.
»Später«, wich der Polizist aus. »Der Schuss wurde von dieser Feldschlange aus abgegeben.«
Man sah das Foto der Museumskanone.
»Wir haben eine Patronenhülse gefunden, 9 mm, gängiges Kaliber, Waffe vorerst unbekannt. Die Kugel steckte in Däppens Kopf. Er ist sofort gestorben. Entweder haben wir einen hervorragenden Schützen, da die Distanz beinahe 40 Meter beträgt, oder es handelt sich um einen Zufallstreffer.«
»Ein Kopftreffer als Zufall?« Nicole Himmel war nicht überzeugt.
»Nun«, fuhr der Störfahnder fort, »wir haben natürlich alle Daten ausgewertet. Und es gibt da eine Sache, die uns Kopfzerbrechen bereitet. Wir haben auf dem schwierigen Gelände eine rote Schnur ausgelegt, ausgehend vom Standort des Opfers zum Fundort der Patronenhülse …«
Man sah das morastige Feld, das durch die rote Linie Konturen erhielt.
»… was natürlich nur eine Annäherung sein kann.«
Er zoomte das Bild heran und vergrößerte einen Ausschnitt links der Mitte, etwa zehn Meter vom Opfer entfernt.
Nun konnten es alle sehen.
Leicht unterhalb der roten Linie steckte ein Schuh im Dreck.
»Das ist«, stotterte Heinrich, »mein Schnabelschuh.«
»Genau«,
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