Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
sagte Spring. »Ich habe dich ja gesehen, wie du mit nur einem Schuh zum Pausenplatz gehumpelt bist.«
»Heißt das …?«, fragte Nicole und erbleichte.
»Es bedeutet genau«, erläuterte Spring, »dass unser Detektiv in der direkten Schusslinie stand und wir nicht wissen, ob die Kugel wirklich dem Börsenhändler galt.«
»Das kann nicht sein«, verteidigte sich Müller. »Es wusste doch keiner, dass ich als Statist agieren würde. Du selbst hast uns zum Mitmachen animiert, und das erst vor wenigen Wochen. Wer also sollte ein Interesse daran haben, mich zu erschießen? Und wer hat gewusst, wo ich stehen würde?«
»Gnadenbrot«, sagte Nicole und erbleichte.
»Erst klären wir ab, ob Tom Däppen mit irgendetwas in Zusammenhang gebracht werden kann, was ihn zu einem Opfer machen würde. Sollten wir nichts finden, werden wir dir ein paar unangenehme Fragen stellen müssen«, sagte Bernhard Spring.
»Das ist ein Alptraum«, entgegnete der Detektiv. »Solche Dinge passieren sonst nur in TV-Serien wie ›24‹, ›Police & Thieves‹ oder ›Räuber und Gendarm‹. Sollte ich spezielle Sicherheitsvorkehrungen treffen?«
»Keine Ahnung.« Spring verwarf die Hände. »Wir wissen nicht, ob du zum Ziel geworden bist. Gestorben ist ein anderer. Und da wir alle wenig Ahnung haben, wer hinter dieser Tötung stecken könnte, kann dir auch keiner sagen, wovor du dich in Acht nehmen sollst.«
Heinrich Müller schwitzte mehr, als es der Temperatur geschuldet war.
»Wir haben noch eine winzige Chance«, ergänzte der Störfahnder. »Der Regisseur hat mir eine DVD mit allen abgedrehten Szenen versprochen. Vielleicht finden wir in den vorhandenen Aufnahmen eine Spur des Schützen.«
Bernhard Spring und Heinrich Müller beschlossen, dem Arbeitgeber von Thomas Däppen gemeinsam einen Besuch abzustatten. Vermutlich fanden sie schneller einen Grund dafür, weshalb der Mann umgebracht worden war. Oder keinen Grund, dachte Heinrich, dann müssen wir bei mir selber weitersuchen. Die Wohnung des Opfers hingegen konnte warten, bis ein Verdacht erhärtet war.
Die beiden begaben sich zur Bank, bei der Däppen zuletzt als Angestellter gemeldet war. Sie wurden unverzüglich zum Direktor vorgelassen. Die Bank war derart privat, dass sie ihren Namen auf gar keinen Fall in der Presse lesen wollte, schon gar nicht im Zusammenhang mit einem Mord. Der Direktor stellte sich deswegen auch nicht mit seinem Namen, sondern nur mit seiner Funktion vor.
»Thomas Däppen«, er überlegte seine Worte, »war einer meiner besten Schüler im Banking. Er hat fünf Jahre bei uns gearbeitet, nachdem er seine Sporen für eine Großbank als Börsenhändler abverdient hatte.«
»Und bei Ihnen«, fragte der Störfahnder, »hat er auch an der Börse gewirkt?«
»Nicht an der Front.« Der Direktor zögerte. »Er hat die Märkte im Überblick behalten und den Händlern Anweisungen erteilt. Keine spekulativen Geschäfte, Sie verstehen. Wir können es uns nicht leisten, die Gelder unserer Kunden zu verlieren.«
»Aber?«, fragte Heinrich Müller.
»Aber«, der Direktor spitzte die Lippen und fuhr fort, »der Mann muss einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt haben. Von Figur war er kurz, dick und ein wenig aufgeblasen. Sein Gesicht glich dem aufgehenden Vollmond, und seine Augen blitzten unter borstigen Augenbrauen. Er konnte einem richtig Angst einjagen. Das war auch Teil seiner Strategie.«
»Wie John Maynard Keynes sagt«, entgegnete Spring und wuchs wieder einmal über sich hinaus, »basiert der Kapitalismus auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.«
Der Direktor blickte ihn entsetzt an. Seit Jahren bestand seine ausgeklügelte Weisheit darin, von nichts wirklich erstaunt zu sein und keine überschwänglichen Gefühle zu zeigen. Er nahm die Ereignisse, wie sie kommen, und die Menschen, wie sie sind. Dieser Polizist überraschte ihn.
»Ich schenke Ihnen reinen Wein ein«, sagte er. »Schon vor der Immobilienspekulation, die ja auf die bekannte Blase hinauslief, die einmal platzen musste, hat sich Däppen mit spekulativen Anlagen vergriffen. Ein Totalverlust war die Lebensversicherungsanstalt Infortuna, weil die Unglücklichen die Überlebenden sind. Unsere Bank musste mit einem zweistelligen Millionenbetrag für die Verluste aufkommen. Wir konnten sie ja nicht auf unsere Kunden überwälzen. Einen derartigen Vertrauensverlust hätten wir nicht
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