Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
helfen könntest.«
»Das wäre?«, erkundigte sich seine Freundin.
»Was würdest du mit fünf Millionen machen?«
»Fünf Millionen Franken?«
»Was denn sonst? Fliegen oder Frösche?« Henry verwarf die Hände.
Leonie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Das würde mich überfordern. Und woher soll ich das Geld nehmen?«
»Lotto spielen«, sagte Müller.
»Oder einen Teppich verkaufen«, meinte Spring.
Leonie verließ die beiden kopfschüttelnd, kam jedoch bald mit zwei Schüsseln zurück.
»Ich hab was, um die Gemüter zu kühlen«, sagte sie. »Mövenpick Limited Edition Ice Cream Absinthe & Amaretti.«
Jetzt war es an den beiden Herren, zweifelnd zu gucken. Anschließend stieß jeder mit dem Löffel ins Eis, führte ihn zum Mund und versank in andächtiges Schweigen.
»Wie schade«, meldete sich Heinrich schließlich zu Wort, »dass man Geruch und Geschmack nicht aufzeichnen, speichern und wiedergeben kann.«
»Um den Gerüchen früherer Zeiten auf die Spur zu kommen?«, fragte Bernhard. »Schweißsocken eidgenössischer Truppen?«
»Socken gab es wohl keine damals«, meinte Henry, »müsste man überprüfen. Ich dachte eher an Lebensmittel.«
»Du denkst immer erst an die Genüsse des Lebens, aber dass so eine Datei hauptsächlich aus üblen Düften und nicht aus Wohlgerüchen entstünde, ist dir offenbar entgangen. Das meiste auf der Welt riecht abscheulich. Außerdem gibt dir keiner eine Garantie, dass sich der Ursprungszustand in seinem Molekülcharakter über die Jahrhunderte nicht derart verändert, dass er eine Parodie seiner selbst wird.«
»Das wäre dann die MMK.«
»Die was?«, fragte Spring mit dem Mund voller Eiscreme.
»Die Müller’sche Merkwürdigkeitskonstante.«
»Und was bitte soll das sein?«, wollte Bernhard wissen.
»Die MMK beschäftigt sich mit ungeklärten Alltagsphänomenen und legt die Terminologie für ihre Beschreibung fest. In unserem Fall interessiert sie sich für den Grad der Abweichung. Es gibt zum Beispiel eine Diskussion darüber, was die Anfälle von Wahnsinn bei Künstlern an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ausgelöst hat.«
»Absinthe?«, riet Spring.
»Ja, klar. Doch war es der Thujongehalt, also der Wermutextrakt, oder war es die schlichte Menge an Alkohol, die der exzessive Trinker in sich reinschüttete?«
Spring zuckte die Achseln.
»Egal«, sagte Müller und fuhr fort. »Man hat noch ein paar Originalflaschen aus der Zeit gefunden und festgestellt, dass sich der Thujongehalt von heutigem Absinthe kaum unterscheidet. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob sich das Thujon über einen derart langen Zeitraum abbaut oder nicht. Nur so könnte man eine wissenschaftlich sinnvolle Aussage machen.«
»Und dabei hilft die MMK?«, sagte der Störfahnder zweifelnd.
»Ja. Sie misst die erwarteten Abweichungen in Bezug auf einen stabilen Zustand. Man kann folglich das Ursprüngliche rekonstruieren.«
»Jedoch hast du damit die Frage Thujon oder Alkohol nicht geklärt«, stellte Spring fest.
»Noch nicht«, sagte Henry.
»Wenn ich richtig verstanden habe«, sagte Leonie, die zu den beiden gestoßen war, »zählt die MMK die Socken, die aus einer Waschmaschine rauskommen und errechnet bei einer ungeraden Zahl die Menge der Socken, die fehlt. Üblicherweise einer.«
»Der rechte oder der linke?«, fragte Henry und zwinkerte mit dem linken Auge.
Leonie schüttelte den Kopf und sagte: »Es ist alles bereit. Der Beamer steht. Wir können anfangen.«
Sie konzentrierten sich auf die weiße Wand, an der in der Galeriesaison jeweils Bilder und Fotos von ausstellenden Künstlern hingen. Nun zappten sie sich durch ungeordnetes Bildmaterial, bis sie endlich die noch nicht geschnittene Szene der Schlacht von Murten fanden.
Es war ein ungeheueres Chaos und ein unbeschreiblicher Lärm, der auf sie einprasselte. Der überlaute Knall einer burgundischen Feldschlange, offenbar einer nachgebauten, erschreckte Baron Biber, der bisher ruhig auf einer Katzendecke geschlafen hatte und nun einen Vorgeschmack bekam, wie er sich vor dem Feuerwerk zum 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, zu fürchten hat.
Pulverdampf breitete sich aus, als ein weiterer Knall zu hören war, leise, aber deutlich wahrnehmbar, weil es eine Spitze und ein Echo gab, das bei den Blindpatronen und Sprengladungen sehr viel dumpfer klang.
Kurz vor diesem Geräusch, das sich als der tödliche Schuss erweisen sollte, schwenkte die Kamera vom Geschütz auf die angreifenden Eidgenossen, so dass
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