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Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot

Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot

Titel: Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Lascaux
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Gestüt mit Freiberger Pferden; die Tête de Moine-Schaukäserei, denn in der Abtei war der Mönchskopf erfunden worden; das ehemalige Kloster, dessen Barockkirche im Sommer Kunstausstellungen beherbergte und dessen Anbauten die Klinik; und einen schönen Wald, von dem der Name des Dorfes abgeleitet worden war, nämlich aus dem Vulgärlateinischen ›bella lagia‹. Viel Natur also, Juraweiden, wenig Wasser. Und das Hôtel de l’Ours, einen Prachtbau aus Sandstein, der allen Stürmen trotzte, sowohl den meteorologischen als auch den historischen und sogar dem Bildersturm.
    Blau züngelten die Flämmchen, die sich langsam die Fassade des Hôtel de l’Ours hochfraßen, blau zuckten die Blitze, die in den wolkenlosen Himmel hinauffuhren. Bleich und blau flimmerte das Gesicht einer Frau, die über das Dörfchen Bellelay im Berner Jura zu herrschen begann. Noch blieb es still. Es war 10 Uhr abends, und die Menschen hatten sich entweder bereits in ihre Behausungen zurückgezogen oder saßen noch beim Bärenwirt in der Gaststube, als draußen der Donner krachte.
    Daraufhin erscholl eine tiefe, aber unverkennbar weibliche Stimme: »Bürgerinnen und Bürger von Bellelay, Untertanen des Königs von Frankreich, hört mich an!«
    Seit dem Franzoseneinfall von 1797 hatten die lieblichen Jurahöhen nie mehr so etwas erlebt, sodass es die Leute vor die Häuser und aus der Gaststube zog. Erst fluchte der Wirt, da ihm Einnahmen auszufallen drohten, doch bald erkannte er das Potenzial der ungewohnten Situation und befahl dem Personal, für Getränkenachschub zu sorgen.
    »Einer der euren«, erklärte die Stimme, die man jetzt diesem bläulichen Frauengesicht zuordnen konnte, »ein unregelmäßiger Gast eurer Gemäuer, ist zum Frevler geworden, zum Meuchler und Mörder ohne Gnade oder Gewissen. Er wird es mit seinem Leben büßen, wenn er nicht gesteht!«
    Dann löste sich das Frauengesicht von der Fassade des Hôtel de l’Ours, ein Körper schien aus dem Boden zu wachsen, eine riesige Gestalt schwebte über den Köpfen der Menschen, und als sie zögerlich einen Fuß vor den andern setzte, wurden Befürchtungen laut, sie möchte die Tête de Moine-Schaukäserei zerstören.
    »Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und was über sie kommen soll, eilt herzu.«
    Sei es, dass die Leute aus den jurassischen Hügeln besonders mutige Menschen waren, sei es, dass der Alkohol sie hat leichtsinnig werden lassen. Ein paar Gäste des Bärenwirts jedenfalls wollten der Angelegenheit auf den Grund gehen und wagten sich an die Erscheinung heran.
    »So euch euer Leben lieb ist, nähert euch nicht, mein Zorn schont auch die Unschuldigen nicht. Gebt heraus, was nicht euch gehört. Verschließt eure Augen nicht vor dem Elend der Menschheit. Schwört auf euren König!« Zwei weitere Blitze zuckten durch den wolkenlosen Himmel, und der nachfolgende Donner dröhnte dermaßen laut, dass den Kühen die Milch im Euter stockte. Danach schwebte die Frau in den Himmel hinauf, wie ein aus der Unterwelt zurückgekehrter Engel.
    Ein paar letzte blaue Schlieren am Nachthimmel zeigten den Zurückgebliebenen, dass sie keiner Täuschung aufgesessen waren. Das gab zu reden. Die Gaststube füllte sich im Nu, der Getränkeumsatz stieg über das erhoffte Maß. Schon wollte man sich lachend und schulterklopfend über das eben Erlebte hinwegreden und so tun, als ob sie alle einer kollektiven Hysterie verfallen wären, kündigte sich neues Unheil an.
    Draußen hatte sich ein Sprechchor formiert, der wie in einem Rondo immer lauter wurde, und als man sich in der Kneipe die Mühe nahm, die schweizerdeutschen Worte zu verstehen, vernahm man Folgendes: »Gebt ihn raus, lasst den Teufel frei, wir kümmern uns um ihn, sie ist eine von uns.«
    Es kam zurück. Die Erscheinung verdoppelte ihre Intensität. Alles stürzte wieder nach draußen, und da stand das Gesicht , oder besser es hing über der barocken Klosterkirche und bewegte den Mund zu einem unhörbaren Lied, das sich mit den heulenden Sprechgesängen der Insassen der Psychiatrischen Anstalt vermischte. Hundert Menschen schwenkten in einer Art Messe ihre Oberkörper auf dem Parkplatz vor den Mauern des ehemaligen Klosters, zu Füßen des Hôtel de l’Ours.
    Wie bereits gesagt, gehören die Jurassier nicht zu den Ängstlichen, allerdings gerieten nun viele an die Grenze dessen, was sie ihrem Bewusstsein als real zumuteten. Die ganzen Späße

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