Heinrich Mueller 05 - Mordswein
befindet.«
»Es wandeln dann also ein halbes Dutzend Kleidungsstücke aus der ganzen Welt auf einem Träger durch die Landschaft.«
»Und wenn die Tochter die Bluse der Mutter anzieht und sich plötzlich ohne die andern Stücke auf den Weg macht, bekommt der Computer eine Identitätskrise.«
Jedenfalls waren die Menschen im Lokal wieder friedlich. Sie redeten über alltägliche Probleme und nicht mehr über Auslandsreisen, Hassprediger oder Völkermord, sie gaben sich dem einen oder andern Glas hin und ließen Nicole im Großen und Ganzen in Ruhe, sodass es doch noch ein entspannter Abend wurde.
Vorerst.
Denn irgendwann gegen Mitternacht kam die Überraschung, von der Nicole nichts gewusst, die sie jedoch instinktiv gespürt hatte.
»Themenabend«, flüsterte ihr eine leicht bekleidete Dame zu, die eben erst durch die Tür getreten war.
Nicole zog die Augenbrauen hoch.
»Lord Algerton«, schob die Dame nach, als drei junge Männer durch die Tür traten und ein dünnes, bemaltes Brett an die hintere Wand des Löwen lehnten. Es sollte eine gelbe Postkutsche darstellen, eines jener Ungetüme aus vergangenen Zeiten. Auf der Tür stand »Dilligence de Lion« in nicht ganz stubenreinem Französisch.
André Huber hielt einer maskierten Venezianerin die Tür auf, und Nicole fragte sich noch, woher er plötzlich aufgetaucht war, als alle Dämme brachen. Ein Defilee von allem, was die um Osteuropa erweiterte Region an weiblicher Schönheit zu bieten hatte, eroberte den Gastraum und einen anliegenden Saal, dessen Türen sich unvermittelt geöffnet hatten und in dem ein opulentes Buffet bereitstand, ein langer Holztisch, der sich unter Unmengen von Lebensmitteln und Getränken bog.
Es kämpften blauäugige Wassernymphen vom südlichen Seeufer mit haselnussbraunen Rehaugen von den nahen Jurahöhen um Lachspasteten und Crevettencocktails, elegante Solothurnerinnen mit klassischer Silhouette zupften unter spitzen Schreien Artischockenblätter, großbusige Damen aus Ins verloren nicht nur ihren höflichen Ausdruck, sondern auch die eine oder andere Brust aus einem tief liegenden Décolleté, während sie von schlanken Hyänen aus Neuchâtel mit Sekt bespritzt wurden. Stand da nicht mitten drin Nationalrätin Barbara Born? Bernhard Springs wirre Erzählungen bekamen langsam einen Sinn.
Als ich mein Bedenken äußerte, wie das aber endlich einen Ausgang nehmen würde, wenn man als jung solche Dinge und so arg treibe, gab er zur Antwort, das wolle gar nichts sagen, er wüsste hundert Beispiele, dass die lustigsten Meitscheni, die es mit Wein, Branntwein und Buben nicht eigelich genommen, die tollsten und brävsten Hausfrauen geworden seien.
Überhaupt mühten sich alle darum, den Eindruck, den sie aus den kurzen Textpassagen erhalten hatten, die von den Tageszeitungen aus dem Lesclide veröffentlicht worden waren, nicht etwa zu verfeinern, sondern ihn im Gegenteil ins Absurde zu steigern. Bald einmal hingen die nachlässigen Kostüme in Fetzen, und ein Mann, den Nicole noch nie gesehen hatte, bemühte sich, den unrühmlichen Reigen noch anzuheizen. Er spielte die Rolle des Lord Algerton, aber er spielte sie falsch. Vielleicht war das Claude Eckstein? Er drängte die Frauen mit obszönen Gesten, als ob sich ihnen dadurch ein Geheimnis entreißen ließe. Er verteilte Wein flaschenweise und bewarf die Anwesenden mit fettigem gebackenem Fisch, bis auch die letzte Ordnung zerfiel und alles, was nicht niet-und nagelfest war, heruntergerissen wurde.
Angesichts der Tatsache, dass das Lokal endgültig geschlossen würde, kannte die Meute kein Halten mehr. Ein dumpfer, bösartiger Wille drängte zur Zerstörung des gesamten Mobiliars, sodass Frauen im Matsch ihre Schuhe verloren, in welche Männer in letzter Verzweiflung Rotwein kippten, um den wilden Taumel zu verstärken. Manch einer blieb einfach liegen inmitten von Spaghetti Bolognese, unsanft entschlummert mit einer Weißweinflasche in der Hand und einer halb nackten Göttin im Arm.
Nicole schoss einige Beweisfotos, schüttelte den Kopf und murmelte: »Was bitte war das? Wollen sich die Leute über den ganzen Fall einfach fasnachtsmäßig lustig machen, die Sau rauslassen, oder wollen sie uns mit bestimmten Maskeraden Hinweise auf Verdächtige geben? – Egal. Wenn es hart auf hart geht, wird das eine oder andere Foto bestimmt jemanden zum Sprechen bringen.«
Montag, 9.8.2010
André Huber war pünktlich. Er schob seine Hakennase mit Dreitagebart um Punkt 8 Uhr in Springs
Weitere Kostenlose Bücher