Heinz Strunk in Afrika
lassen. Wenn du schon partout auf jede SMS reagieren musst, lass dir doch wenigstens mal zehn Minuten Zeit mit der Antwort. Einen kleinen Puffer, um Druck rauszunehmen.»
«Du hast ja recht.»
Durch das ständige Naseputzen ist die Haut um seine Nasenflügel herum rissig geworden und an mehreren Stellen aufgesprungen. Um fünf liegt er 200 000 hinten, ich 220 000 vorn.
«Wie machst du das, Bursche? Ich muss ständig
nachwassern
, und dich lieben die Kugeln.»
Nachwassern!
«Wieso? Gestern hattest
du
Glück, heute bin ich eben mal dran.»
«Vorschlag: Um sechs brechen wir hier die Zelte ab und fahren ins
Florida
. Wir können an den Strand gehen.»
Die Tuc-Tuc-Fahrt (nur 100 Schilling) bereitet ihm wieder große Freude. Unter lauten Juhu- und Holla-Rufen rückt er bei jedem Schlagloch seine Brille zurecht. Wir legen uns an den Strand. Tagsüber vibriert die Stadt in einem silbrigen Film von verschmutzter Luft, jetzt sinkt die Dämmerung, als rinne Blei vom Himmel. Die Luft ist warm, schwer, schwül und träge.
«Würdest du für eine Million Euro drei Jahre als Tuc-Tuc-Fahrer in Mombasa arbeiten?»
«Nein. Niemals.»
«Freust du dich schon auf die Kugeln?»
«Wie, da waren wir doch gerade erst.»
«Ja, aber ich meine morgen, stellt sich beim Gedanken daran bereits eine leichte Vorfreude ein?»
«Morgen schon wieder? Wollen wir nicht einen Tag verschnaufen?»
«Das werden uns die Kugeln nicht verzeihen. Heute müssen sie ruhen, aber morgen wollen sie wieder bewegt werden.»
«Wir werden sehen.»
Kurze Pause.
«Wenn ich mich schon auf dein dubioses Gleitzeitkonzept einlasse, können wir auch noch etwas anderes ausprobieren.»
«So? Was denn?»
Mir schwant Böses.
«Regentschaft. Für jeweils acht Stunden ist einer von uns der Regent und darf entscheiden, was gemacht wird. Der andere muss sich ohne Widerworte fügen. Der Regent darf auch bestimmen, was gegessen und getrunken wird.»
«Das scheint mir ja eine todsichere Methode zu sein, sich den Urlaub komplett zu verderben.»
«Nein, das ist ein hochinteressantes Spiel. Wenn es einem zu bunt wird, kann man eine Revolution anzetteln. Die kostet allerdings zweihundert Euro.»
«Aha.»
«Also, wir probieren das morgen mal aus.»
«Ich kann ja schlecht nein sagen.»
Pause.
Ich: «Glaubst du eigentlich, dass es in Kenia eine funktionierende Kabarettszene gibt?»
«Nein. Die haben keinen Humor. Beziehungsweise anderen. Jedenfalls keinen klassischen Kabaretthumor.»
«Kann ich mir auch nicht vorstellen.»
Pause.
«Weißt du was, Bursche? Ich bin wahrscheinlich an Borderline erkrankt.»
«Was? Wie kommst du da denn jetzt drauf?»
«Weil ich sämtliche Kriterien erfülle: ständige Angst davor, verlassen zu werden. Instabilität des Selbstbildes. Fortdauerndes Gefühl innerer Leere. Cholerische Anfälle. Selbstschädigendes Verhalten – Glücksspiel, Alkohol, Rauchen.»
«Ach Unfug, wenn’s danach ginge, würde die halbe Weltbevölkerung an Borderline leiden. Außerdem ist Borderline eine ausgesprochene Modekrankheit. Auch so eine Erfindung aus den Sechzigern, Quatschkram. Früher war man entweder verrückt oder nicht verrückt. Hältst du dich etwa für verrückt?»
«Nein.»
«Na also.»
«Bursche, ich bin müde. Wie wär’s, wir legen uns ein Stündchen aufs Ohr?»
Er rollt sich in sein Sakko ein und ist ein paar Minuten später eingeschlafen. In der Ferne verschmelzen Meer und Himmel. Es rauscht gleichgültig und dumpf, ebenso gleichgültig und dumpf wird es rauschen, wenn wir einmal nicht mehr sind. Je länger ich hier bin, desto mehr könnte ich mir vorstellen, mein Leben damit zu verbringen, aufs Meer zu starren. Nichts anderes als das: aufs Wasser starren.
Als wir aufwachen, ist es stockfinster. Schon halb elf, gibt’s doch gar nicht! Wir torkeln noch schlaftrunken in die Disco. Pünktlich um elf erscheinen Hamdi und Doreen. Doch der Abend entwickelt sich leider nicht wie gewünscht. Ein Totalausfall, ein Fiasko, ein Desaster. Ich komme einfach nicht rein und weiß nicht, warum. Warum ist nichts, aber auch gar nichts übrig vom gestrigen Schwung? Als hätten alle schönen Erlebnisse keinerlei Nachhaltigkeit, während sich der ganze Schrott auf ewig festsetzt. Die inneren Gesetzmäßigkeiten des Nightlife: Ich verstehe sie nicht, habe sie nie verstanden und werde sie auch nie verstehen, niemals. Kein Lächeln, kein Wort, keine Bewegung sitzt. Als hätte ich Eiswürfel in den Adern. Vor Befangenheit wie gelähmt,
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