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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durch das ganze Lager rutschen läßt und dir dann das Skalpell in die Hand drückt. Das sage ich dir, bevor du das Krankenhaus betrittst. Wir haben noch nie solch einen Chefarzt gehabt. Trotzdem stehen meine Offiziere Schlange, um sich untersuchen zu lassen. Gehen wir.«
    Der Oberst erhob sich, stieß Pjetkin vor die Brust, sah zu ihm empor, denn er war einen Kopf kleiner, und sagte: »Pjetkins Sohn, bei mir im Lager! Wer hätte das in Stalingrad gedacht …«
    Das Krankenhaus lag nahe dem Zaun. Es war ein großer steinerner Komplex mit einem freien Platz davor, auf dem die Krankmeldungen sich aufstellten. Pjetkin betrat das Haus mit Vorsicht. Die Warnungen des Obersten lagen auf seinem Herzen wie Blei. Er sah sich um, ob Baranurian ihm folgte, und war froh, daß er nicht allein war.
    »Warten wir hier«, sagte der Oberst. »Ich signalisiere dich dem Chef.«
    Pjetkin nickte. Dann war er allein, stand am Fenster und starrte hinaus auf das Lager. Workuta. – Endstation. Es schneite wieder.
    Eine Tür klappte hinter ihm. Er drehte sich nicht um. »Endlich! Da bist du ja, Igorenka …«, sagte eine dunkle, schwingende Stimme.
    Pjetkin wirbelte herum. Das Blut schoß in seinen Kopf und zerriß fast die Adern. Vor ihm stand Marianka Jefimowna Dussowa.
    *
    In Sibirien gibt es einen Spruch: Er ist wie ein Fuchs, der seinem Schwanz nachrennt. Ein kluges Wort ist das, Genossen, denn wer sich immer nur um sich selbst dreht kommt nie zu Ende. Nicht anders erging es Pjetkin, als er jetzt Marianka Dussowa gegenüberstand und sich eigentlich nichts geändert hatte als der Name des Lagers. Selbst der Schrecken, den die Dussowa verbreitete, war der gleiche, und es spielte dabei keine Rolle, wie lange sie in Workuta war … ein Tag genügte, um in ihrer Nähe zu begreifen, daß die Hölle nicht erst noch komme, sondern schon gegenwärtig war.
    »Wie kommen Sie hierher?« fragte Pjetkin und sank auf einen Stuhl, der an der Bretterwand der Stube lehnte. Er fühlte sich wahrhaftig überwältigt und schwach in den Beinen.
    »Das ist eine kurze Geschichte, Igorenka.« Marianka lehnte sich neben Pjetkin an die Wand. Ihre Hände glitten liebkosend über sein struppiges, verklebtes Haar. Es war eine so ergreifende Zärtlichkeit, daß Pjetkin sich ganz steif machte und doch ein Prickeln unter dem Nacken spürte. Er dachte mit allen seinen verbliebenen Energien an Dunja, an ihren letzten Blick auf der Eisenbahnrampe und wehrte sich innerlich gegen den wohltuenden, bis in sein Herz saugenden Druck von Mariankas Hand. »Du bist schuld, mein Wölfchen …«
    »Ich? Ich bin eine ›Tote Seele‹.«
    »Aber vorher hast du ein Gift hinterlassen. Das verfluchte Gift der Wahrheit. Sofort nach deiner Versetzung nach Chelinograd habe ich deine Forderungen an die Zentralstelle für medizinische Versorgung wiederholt. Mehr Medikamente, Hygiene im Lagerlazarett, ein menschenwürdiges Unterbringen der Kranken, eine den Tatsachen entsprechende Soll-Festsetzung der Arbeitsbrigaden … eine lange, eine irre Liste, Igorenka. Nach zwei Tagen schon – oh, sie können schnell arbeiten, wenn man ihnen Feuer unter den feisten Hintern schürt – erschien eine Kommission. Wer kennt sie nicht, die Kommissionen? Sie gehen herum, gucken in die Töpfe, befühlen die Betten, schnuppern in den Latrinen, schnüffeln in der Küche, fragen diesen und jenen, und immer die falschen, und kommen sie an einen, der etwas zu sagen hat, so ruft der sofort aus Angst, nach Weggang der Kommission von den anderen verprügelt zu werden: ›Oh, Genossen, es ist gut hier! Man sorgt für uns wie eine Mutter für ihre Kinderchen. Die Arbeit? Na ja, arbeiten muß man überall, und wo's kalt ist, ist eben der Boden schwerer …‹ Und dann kehrt die Kommission in die Kommandantur zurück, legt die Gesichter in Hundefalten und fragt: ›Was haben Sie eigentlich geschrieben, Genossin Dussowa? Dieses Lager ist ja eine Sommerfrische! Wir glauben, Ihnen fehlen die Vergleiche. Immer nur dasselbe Lager, das trübt den Blick. Wir können für eine Erweiterung Ihrer Kenntnisse sorgen.‹ Und ich habe geantwortet, und dabei an dich gedacht: ›Dr. Pjetkin hat diese Mängel festgestellt – ich pflichte ihm nur bei. Der Genosse Pjetkin kam hierher aus einer Welt, wo Menschenwürde zum Parteiprogramm gehört.‹«
    »Mein Gott, Marianka, das haben Sie gesagt?«
    »Was hatte ich zu verlieren? Du kennst mein Leben, Igoruschka: Ich bin im Schatten geboren, im Schatten aufgewachsen, im Schatten geblieben …

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