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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wer kann mich mit einem Schatten erschrecken?«
    Marianka Dussowa legte beide Hände auf Igors Haare. Ihre Finger bewegten sich kreisförmig auf seiner Kopfhaut, als wolle sie ihn massieren. Ein Gefühl, das Pjetkin bis in die Zehen fuhr.
    »Ich habe noch dreimal nach Chabarowsk geschrieben, und dreimal rief mich der Genosse Sektionsleiter an und fragte, ob ich krank sei. Das war die Frage, die ich mir damals selbst stellte. Ja, ich war krank … ich dachte an dich, und es durchfuhr mich immer wie ein Fieberstoß. Mit offenen Augen träumte ich, daß du vor mir stehst, und dann hörte ich deine Stimme: ›Ich bin Arzt. Nicht nur die Kranken muß ich heilen, sondern auch eintreten für die Würde des Menschen.‹ – Ich habe das nachgesprochen … es war mein einziges Argument … und drei Wochen später versetzten sie mich nach Workuta. Eine Ehre, Genossin, ließ man mir aus Moskau sagen. Daraufhin bin ich nach Moskau gefahren. Der Chef des Gesundheitswesens im Innenministerium umarmte mich, zog mich an seine Brust, und nannte mich ein glückliches Töchterchen. ›Vierundzwanzig Ärzte haben Sie unter sich, Marianka Jefimowna‹, sagte er und strahlte, als habe man ihn wie einen Pfannkuchen in Fett gebacken. ›Chefärztin in Workuta, Sektion I … das ist eine Auszeichnung. Nur die besten erreichen das. Ich weiß, daß wir uns nicht irren mit dieser Wahl.‹«
    »Und kaum sind Sie hier, verbreiten Sie Entsetzen«, sagte Pjetkin voll Bitterkeit. »Warum, Marianka Jefimowna?«
    »Hat man dich gewarnt?« Sie lachte, als läge sie in seinen Armen. »Der Oberst? Ein alter Bock, der neidisch auf die jungen Offiziere schielt, die abends vor meinem Fenster stehen.«
    »Er war ein Freund meines Vaters.« Pjetkin erhob sich von seinem Stuhl und trat ans Fenster. Der Blick über den Appellplatz jagte ihm neue Schauer über den Rücken. Eine Kolonne Strafgefangener war damit beschäftigt, den Platz vom Eis zu säubern. Mit scharfkantigen, stahlbeschlagenen Brettern an langen Stielen kratzten die Männer das Eis locker, eine furchtbare Arbeit für einen Körper, dem man am Tage 200 Gramm Brot und einen halben Liter Suppe zuteilte. Eine tödliche Arbeit für Menschen, die keine Muskeln mehr hatten, sondern nur noch mit Haut überspannte Knochen. Fast alle, die dort das Eis von der Erde kratzten, waren im medizinischen Sinne Sterbende, und Pjetkin wußte, daß wie im Lager Sergejewka die Dussowa jeden Morgen durch die Reihen ging und mit starrem Gesicht »Arbeitsfähig! Arbeitsfähig! Arbeitsfähig!« sagte.
    Pjetkin zuckte zusammen. Mariankas Arme legten sich um seinen Hals. Er spürte das Kitzeln ihrer Haare in seinem Nacken und roch ihr Rosenparfüm. Der Geruch der Tataren, von dem man sagt, er würde einen Hengst zu einem Lamm machen. »Ich weiß, was du denkst«, sagte sie leise. Ihre Lippen küßten seine linke Schläfe. »Aber ich selektiere nicht mehr. Dazu habe ich neun Ärzte. Der zehnte wirst du sein.«
    »Nie!«
    »Willst du im Steinbruch von Pae-Jer arbeiten? An der Straße zur Bajdarazkaja-Bay? Im Holzwerk von Jewssjawan?«
    »Überall, wo ich meine Ehre nicht verkaufe.«
    »In vier Wochen lägst du vor mir auf dem Sektionstisch.«
    »Fragen Sie danach bei den anderen?«
    »Du bist nicht ein ›anderer‹. Du bist Igorenka …« Sie küßte seinen Nacken und fuhr mit beiden Händen über seine Brust. Das rauhe Hemd knöpfte sie ihm auf, legte ihre Finger flach gegen seinen knochigen Brustkorb und tastete ab, wie elend er geworden war. Dann drückte sie den Kopf an seine Schulter und blieb hinter ihm stehen, eng an ihn geschmiegt. »Ich habe dich angefordert als meinen chirurgischen Assistenten.«
    »Sie wußten also, daß ich nach Workuta komme?«
    »Ich habe mich darum gekümmert.« Wieder ihr dunkles, bis in die Seele gleitendes Lachen. Ein unerklärbarer Ton, urweltlich, erschreckend. »Die Verwaltung ist ein Wasserkopf mit tausend Gehirnen, und jedes denkt für sich, kümmert sich nicht um das andere neben sich, und wenn sie alle vor sich hin denken, weiß keiner mehr, was eigentlich daraus wird. Von Moskau habe ich mir die Listen der neuen Verurteilten und Verbannten geben lassen, und siehe da … dein Name war dabei. Aber dahinter stand: Ust-Bereneck. ›Was soll Dr. Pjetkin in diesem lausigen Ust-Bereneck, Genossen?‹ habe ich die Verwaltung in Moskau gefragt. ›Ich brauche ihn hier in Workuta! Wo gibt es einen so guten verbannten Chirurgen wie ihn?‹ – Die Beamten in Moskau wußten natürlich nicht,

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