Heiß wie der Steppenwind
von Zuchthaus zu Zuchthaus war der Vater, aber wie er hieß und wo es geschehen war, das verriet sie nicht. Man hatte sie geprügelt und mit Versprechungen von Haftverkürzung gelockt … sie schwieg verbissen.
»Sie betrügen einen doch nur«, sagte sie zu ihren Kameradinnen. »Aber mit einem Kind werde ich alles überleben.«
Ihre große Hoffnung erfüllte sich sofort nach der Ankunft an der Rampe: Sie wurde einer Spezialabteilung überwiesen, denn in Workuta gab es viele Mütter mit Kindern. Sie brauchten nicht beim Straßenbau zu arbeiten, sondern webten Decken in der Weberei, kochten Wäsche und flickten Schuhe.
Mit dem letzten Krankenwagen fuhr auch Dunja ins Lager. Der Fahrer des Wagens fragte nicht, wo sie hin wollte … er ließ sie in der Eingangshalle des Krankenhauses stehen.
Dunja wartete. Irgendwo in der Verwaltung wurden jetzt ihre Transportpapiere abgegeben, trug ein Beamter des KGB ihren Namen in eine Liste ein und suchte sie vielleicht schon. Die anderen Frauen wurden durch das Reglement jeder Lageraufnahme geschleust: Namenaufruf, Führung zum Bad, heiß baden und entlausen, Empfang der Lagerwäsche, Haarescheren, Anstellen, Warten, Abmarsch zu den Baracken. Begrüßung durch die Barackenältesten: »Aha! Frische Luft aus der weiten Welt! Kommt her, laßt euch beschnuppern, riecht ihr noch nach Männern …?« Einrichten des Bettes, Auspacken, die letzte Habe verteilen, denn in der Hölle braucht man kein Privateigentum mehr, ein paar Worte, Weinen … Und dann, an diesem ersten schrecklichen Tag, immer wieder das stumpfsinnige Warten: Was machen sie mit dir? Wo kommst du hin? Straßenbau? Holzfällerbrigade? Steinbruch? Wäscherei? Näherei? Küche? Wieviel leben hier? Einige tausend? Wenn sie leben, warum soll man dann nicht auch überleben? Laß erst die Nacht vorbei sein, die Nacht, die das stille Weinen zudeckt …
Dunja fragte sich durch bis zum Zimmer des Chefarztes. Sie hielt Pflegerinnen an – darunter drei Strafgefangene – sprach mit zwei Ärztinnen, die weiße Häubchen auf dem Kopf trugen, als seien sie in einer Universitätsklinik, und kam durch einen langen Gang, auf dem zu beiden Seiten auf rohen Holzbänken, aufgereiht wie Hühner, aber farbloser und stiller, in sackartigen grauen Leinenkitteln Frau neben Frau saß. Die einen stöhnten leise und schnitten gräßliche Grimassen vor Schmerzen, andere hockten reglos da, erstarrt im Leid, bleich, hohlwangig, triefäugig, ausgezehrt, mit Geschwüren übersät, nach Eiter stinkend … ein Bataillon der Verfaulenden. Die Poliklinik. Ambulante Behandlung. Oder Aufnahmeuntersuchung für die stationäre Pflege. In vier Zimmern wurde untersucht und behandelt.
Dunja fragte sich weiter. Ein junger Arzt mit einer Knollennase war so höflich, sie bis zur Tür des Chefs zu bringen. Er trug einen blutbefleckten Kittel und war kahlgeschoren. Das gab ihm das Aussehen eines riesigen Vogelkindes.
»Haben Sie noch ärztliche Ideale?« fragte er, bevor sie das Chefzimmer erreicht hatten.
Dunja nickte heftig. »Ja.«
»Immer diese Schwierigkeiten mit den Neuen. Genossin … wenn Sie in dieses Zimmer dort treten, legen Sie alles ab, was Sie bisher dachten, glaubten, hofften. Das hier ist keine Menschwelt mehr –«
Er klopfte für Dunja an die Zimmertür, wartete nicht ab, ob man von drinnen »Dawai« rief, lächelte sie schief an, hob die Schultern und rannte den Gang zurück zu einem der Untersuchungszimmer.
*
Anatol Stepanowitsch Dobronin, der Chefarzt des Frauenlagers Workuta und gleichzeitig Regierungskommissar für das Gesundheitswesen der Nordlager, rauchte eine Papyrossa und trank grünen, parfümierten Tee, las in einem Buch und vertrieb sich offensichtlich mühsam die Zeit, als Dunja ins Zimmer trat. Auf das Anklopfen war keine Antwort gekommen, und so hatte Dunja nach kurzem Zögern einfach die Tür aufgestoßen. Dobronin runzelte die Stirn. Er musterte Dunja wie ein Bordellbesucher, der die Vorzüge seines Stundenkaufes taxieren will, legte dann die Zigarette weg in einen tönernen Aschenbecher und klappte das Buch zusammen. »Was ist?« fragte er.
Dobronin hatte eine helle Stimme. Er litt sehr darunter, denn sein Stolz war seine ausgeprägte Männlichkeit, nur die Stimme war irgendwie hängengeblieben und klang weibisch. »Wer bist du? Wer hat dich überhaupt hierher geschickt? Kommt so allein daher, als sei sie eine Privatpatientin aus vornehmem Haus in Leningrad. Wollen Madame das Pelzchen ablegen?« Dobronin räusperte sich,
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