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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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betrachtete Dunja aus gesenkten Augen. Sie hockte auf einem Schemel unter dem Fenster, mit klaren und wachen Augen, nüchtern wie ein gebügeltes Hemd, im kalten Licht der nackten Glühbirnen von einer porzellanhaften Zerbrechlichkeit. Ihr goldgelbes Haar schimmerte, als sei es aus Seide gewebt. »Das nennen sie nun Leben, Dunja Dimitrowna.«
    »Sie nicht, Nikolai Michailowitsch?«
    »Gelegentlich. Wenn man die Wahl hat zwischen Kotzen und Huren … was wählt man dann?« Wyntok steckte sich eine Papyrossa an, trank einen Schluck Wodka und zeigte auf Dobronin, der mit Armen und Beinen verschlungen auf seiner bezopften Mongolin lag. »Ein armer Hund, unser Chefarzt. Gefürchtet wie ein König, der Teufel, aber wenn er allein ist, schreibt er Gedichte, spielt mit sich selbst Schach und weint einmal pro Woche über sein Schicksal. Hätte er Görjö, unser mongolisches Wieselchen nicht, würde er sich längst aufgehängt haben. Sehen Sie mich an. Ich leite die täglichen Selektionen. Ich bestimme, wer arbeitet, wer nicht. Ich stehe jeden Morgen vor den Krankgemeldeten, tippe sie an und sage: ›Arbeitsfähig!‹ Und wenn sie wimmern, um Untersuchung betteln, auf die Knie fallen, meine Stiefel küssen, ihre Geschwüre zeigen, die Kleider aufreißen, mir ihre ausgehungerten Körper entgegenstrecken … ich gehe weiter. Arbeitsfähig. Und die Flüche folgen mir wie der Nebel meines Atems. Glauben Sie, ich habe Freude daran? Welch ein Unsinn! Ich habe meine Norm, ich muß ein Berichtsbuch führen, das in gewissen Abständen der Zentralverwaltung vorgelegt wird. Wer die wenigsten Kranken hat, ist ein guter Arzt … so einfach ist die Linie. Merken Sie etwas, Dunja Dimitrowna? Angst ist es, Angst, die uns dazu treibt, Dinge zu tun, die keiner versteht, der auf dem warmen Ofen hockt und für den die Welt in Ordnung ist. Auch Sie werden diese Angst noch spüren.«
    »Das System muß geändert werden.«
    Wyntok zertrat die Zigarette unter seinem Stiefelabsatz. Er trug kurze Fellstiefel aus Wolfspelz mit dicken Gummisohlen aus Autoreifen. Der Lagerschuster hatte sie ihm gemacht, es waren die besten Stiefel in ganz Workuta. »Dunja, das ist ein Gespräch für Phantasten. Seien wir real … lieben wir uns.«
    »Wyntok –«, sagte Dunja gedehnt und warnend. »Ihre Nase …«
    »Sie gefällt mir selbst nicht.« Er lachte rauh und erhob sich mit einem Ruck. Auch Dunja sprang hoch und ballte die Fäuste. Was nun? Sie starrten sich an wie zwei Hunde, zwischen denen ein Knochen liegt. Komm nur, dachte sie. Komm, großer Wyntok. Ich zerschlage dir mit dem Hocker den Schädel. Mit einem Griff kann ich ihn hochwerfen. Hast du in den Akten nicht gelesen, warum ich nach Workuta versetzt worden bin? Und Wyntok dachte: Ich bekomme dich, mein blondes Schwälbchen. Ich bin kein Idiot wie der arme Kerl in Irkutsk.
    »Sie sollten gehen, Wyntok –«, sagte Dunja laut.
    Wyntok lachte dumpf. »Mir ist, als sei ich gerade erst gekommen.« Er machte zwei Schritte auf sie zu, und sie zog die Schultern hoch und griff nach hinten zum Schemel.
    Plötzlich aber wuchs ein Schatten hinter Wyntok hoch, eine Hand erschien auf seiner Schulter und hielt ihn fest. »Lassen Sie das!« sagte eine harte Stimme. »Nikolai Michailowitsch … ich habe ein Messer in der Hand, und Ihr Rücken ist genau vor mir.«
    Wyntok erstarrte in der Bewegung. Er stand steif da, mit gekrümmten Fingern.
    »Kutjukow –« Wyntok schnaubte durch die Nase wie ein am Ring gezogener Stier. »Sie habe ich übersehen. Ich dachte, Sie schlafen wie die anderen? Warum sind Sie noch wach, Andron Fjodorowitsch?«
    »Gehen Sie!«
    »Ach nein! Eine Maus befiehlt dem Elefanten.«
    »Ich halte das Messer in der Hand. Voran, Nikolai Michailowitsch … zur Tür und nicht umsehen. Spüren Sie die Messerspitze?«
    Dunja konnte nicht sehen, was Kutjukow hinter Wyntok tat. Aber der knurrende Bär setzte sich in Bewegung, tappte zur Tür und stieß sie auf. Im Gleichschritt gingen die beiden Männer durchs Zimmer, eng hintereinander, wie aufgezogene Puppen. In der offenen Tür drehte sich Wyntok noch einmal um. Er grinste breit und höhnisch.
    »Kutjukow hat noch mit keiner Frau geschlafen«, sagte er. »Ich glaube, er hat jetzt ein Recht, von Ihnen aufgeklärt zu werden. Machen Sie es schnell, Dunjuscha … mir scheint, er hat nur ein kurzes Leben. Wie verliebt er ist, der gute Junge!« Wyntok lachte bissig und spuckte gegen die Wand. »Um sieben Uhr ist Selektion, Kollegin.«

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