Heiß wie der Steppenwind
lebenden Leichen mit ihren hohlen Augen, die so tief im Schädel lagen, daß man die Farbe ihrer Iris nicht mehr erkennen konnte, wurden ›ausgelagert‹. Lastwagen holten sie ab und fuhren sie wie einen Haufen Knochen nach Ust-Workuta in ein Außenlager. Ein Arzt begleitete sie … der jüngste Arzt im Lager, ein Milchbart, der bisher nur Injektionen gegeben hatte, Verbände wechselte und zweimal einen Ureterkatheter angelegt hatte. Was jetzt an Krankheiten alles auf ihn einstürmte, überforderte ihn völlig … er verteilte Schmerzmittel, Schlaftabletten und injizierte reduzierte Morphiumgaben. Die Kranken still, duldsam und zufrieden. Dr. Lumnoff, so hieß der junge Mediziner, war stolz auf seine ärztliche Improvisation. In drei Tagen war sowieso alles vorbei – dann fuhr man die toten Seelen zurück ins Hauptlager.
Das Krankenhaus strahlte sauber wie eine Universitätsklinik. Es wurde zu einer Reklame für die rührende Fürsorge, mit der man in den Arbeits-Besserungslagern die Verurteilten betreute. Die Dussowa lief von Zimmer zu Zimmer, schrie, ohrfeigte die Krankenhelfer, fand überall noch Staub und Dreck, trat die Putzkolonnen in den Hintern und wütete so lange, bis selbst die Rückwände der Schränke blank gescheuert waren. Einen Tag vor dem Besuch des Genossen Gesundheitsbeauftragten traf sogar der bestellte Bildwandler ein und wurde im OP I aufgebaut wie auf einer Ausstellung. Pjetkin, die anderen Ärzte und Marianka umstanden ihn und verstanden die Welt nicht mehr.
»Entweder ist das ein Irrtum, oder in Moskau sitzt ein Irrer an der Verteilungsstelle«, sagte die Dussowa und sprach damit allen aus der Seele. »Einen Bildwandler haben selbst große Kliniken nicht … aber wir hier in Workuta bekommen einen frei Haus. Bei einer einmaligen Bestellung. Wer das begreift, ist ein infamer Lügner! Pjetkin, können Sie mit dem Ding umgehen?«
»Ja, Marianka Jefimowna. Ich habe in Kischinew mit ihm Oberschenkelhalsfrakturen genagelt. Es ist für einen Chirurgen ein fast unersetzbares Gerät, vor allem in der Unfallchirurgie.«
Pjetkin demonstrierte es noch am Nachmittag, obgleich die Dussowa sich wehrte, den so sauberen OP wieder schmutzig werden zu lassen. Aus den Steinbrüchen brachte man einen Mann. Oberschenkelbruch, längs aufgespalten mit Absplitterungen.
»Ich werde jetzt den Bruch einrichten«, sagte Pjetkin, als der Verletzte unter der Apparatur lag. Im Fernsehschirm sah man genau das übertragene Röntgenbild … den auseinanderklaffenden Knochen, die Splitter, das große Hämatom, ein fahler kompakter Schatten. Früher mußte der Chirurg blind, nur auf das Gefühl seiner Finger angewiesen, diesen Bruch zusammenfügen und durch laufende Röntgenkontrollen hinterher feststellen, ob er geschickt genug gewesen war – und oft war das eine Glückssache. Jetzt sah man alles so klar, als habe man den Knochen offen vor sich.
Pjetkin begann, den Bruch zusammenzufügen, schob den gespaltenen Knochen genau an der Bruchstelle zusammen, schoß zur Sicherheit vier Drähte hindurch und gipste dann das Bein, immer noch unter dem Bildwandler, ein bis zur völligen Ruhestellung.
»Er wird kein Krüppel werden«, sagte er, als er das Gerät ausschaltete. »Sie wissen schon in Moskau, warum sie uns einen solchen Apparat schicken. Mit ihm erhalten wir dem Volke wertvolle Arbeitskraft.«
Die Ärzte klatschten Beifall, und dabei war es nur eine Routinearbeit gewesen, die Einrichtung eines Bruches, zu einfachen Handgriffen degradiert durch die moderne Technik.
»Alles raus jetzt!« kommandierte die Dussowa, nachdem der Verletzte weggefahren worden war. »Der OP muß glänzen! Der Genosse aus Moskau soll sehen, daß auch am Eismeer sowjetische Gründlichkeit herrscht.«
Am Abend war das Krankenhaus steril. Aus allen Zimmern quoll der Desinfektionsgeruch. Die Kranken waren gewaschen und rasiert. Zum Abendessen wurde eine Kascha aus dicken Bohnen verteilt, sogar Fleischklumpen schwammen darin. Die Kranken freuten sich, nur die Dussowa rief wütend bei der Küche an.
»Idioten! Warum dicke Bohnen? Sollen sie alle furzen, während die Kommission durchs Haus geht?«
Die große Frage, wer da aus Moskau kommt und wie er aussieht, ob er ein gemütlicher Beamter oder ein scharfer Karrierehund ist, wurde am nächsten Morgen beantwortet. Mit einem Sonderwagen, der dem Materialzug angekoppelt war, traf der mächtige Genosse ein. Da man ihn jetzt, drei Stunden vorher, offiziell angemeldet hatte, konnte der Oberst ihn auch
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