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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Menschen, die von Workuta abreisten. Um so mehr kamen an, nicht hier auf dem Bahnhof, sondern auf der Rampe des eigenen Lagerbahnhofs.
    »Ein merkwürdiges Gefühl«, sagte Baranurian und ging mit Pjetkin hin und her. »Du bist der Sohn meines Freundes und Kriegskameraden – ich darf doch du zu dir sagen? – heißt Pjetkin und bist trotzdem ein Deutscher. Du verläßt jetzt Rußland, in dem du groß geworden bist, das dich zum Mann machte, zum Arzt, zum Liebenden. Du denkst, wenn du an Anton Wassiljewitsch Pjetkin denkst, an deinen Vater, und trotzdem darfst du kein Russe sein. Wie kompliziert diese Welt ist. Sie wird noch komplizierter sein, mein Junge, wenn du erst in Deutschland bist. Alles ist dort anders als hier. Fast ein anderer Stern. Weißt du das?«
    »Ich habe mich, ehrlich gesagt, nie um Deutschland gekümmert. Was ich so gelesen habe, in Zeitungen, Büchern, Zeitschriften …«
    »Immer durch die gleiche Brille, Igor Antonowitsch. Was sieht sie: Imperialisten, Revanchisten, Ausbeuter der Arbeiter, Klassenfeinde, Kriegstreiber, Feinde des Sozialismus, degenerierte Fettwänste, Schmierfinken, Lügner, Verleumder … das alles mag stimmen. Aber du wirst auch Menschen darunter finden. Wertvolle Menschen. Sie gibt es überall, auch im Westen. Dann beginnen die Schwierigkeiten. Dann stürzen die Fragen auf dich ein: Wohin gehöre ich? Wozu entscheide ich mich? Bin ich noch Pjetkin oder Hans Kramer? Mein Junge, ich beneide dich nicht, daß du in den Westen fahren darfst. Die Konflikte hören jetzt nicht auf … sie beginnen erst. Du mußt viel Kraft haben, Igor Antonowitsch.«
    »Ich weiß es, Genosse Oberst.« Pjetkin stand auf den Stufen des Sonderwagens, die Hände tief in den Taschen des neuen, gebrauchten Pelzmantels, den ihm Baranurian in Workuta besorgt hatte. »Ich werde sie haben!«
    Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Allein nach Moskau, ohne Begleitung, in einem richtigen komfortablen Personenwagen, ein freier Mensch, der gleich sich immer weiter von Workuta entfernen würde, Workuta, das sein Ende hatte sein sollen. Vor ihm lag das große Unbekannte wie eine gähnende drohende Öffnung, wie ein Riesenmaul, in das er hineinspringen mußte: Der Westen. Deutschland. Die Möglichkeit, Dunja herüberzuholen, wenn er die andere, neue Welt aufmerksam machen würde auf dieses System, aus dem er kam. Er wollte ein schiefes Bild geraderücken. Er wollte sagen: Was wißt ihr vom Russen? Der Russe ist anders als so, wie ihr ihn im Westen seht. Das Bild vom Sowjetmenschen ist falsch! Was hört, seht, lest ihr denn von Rußland? Ein Russe ist ein Mensch wie ihr, wie wir alle, er ist unser Bruder, ein Mensch voll glühender Sehnsucht nach Freiheit und Frieden und Gerechtigkeit … nur darf er im eigenen Land diese Worte nur flüstern, und darum sollte er euer aller Bruder sein!
    Nehmt Dunja als Mahnmal, kämpft mit mir um sie, erzwingt Menschlichkeit …
    Er stand auf den Stufen des Waggons, blickte über den Kopf Baranurians in die Weite und meinte, am Himmel die Dampfwolken aus der Wäscherei des Frauenlagers zu sehen. Hinter den Häusern der Stadt begann die Einsamkeit, die Straße zu den Lagern, der Lagerkomplex, die eingezäunte Welt, über die eine riesige unsichtbare Dunstglocke aus gefrorenem Stöhnen lag.
    Er sah hinauf zur Bahnhofsuhr. Jetzt stand Dunja am OP-Tisch oder machte Visite, und sie dachte an ihn und wußte, daß in wenigen Minuten der Zug abfuhr aus Workuta. Dunja. Ihre letzten Worte trug er in dem Lederbeutel auf dem Herzen.
    »Gott mit Dir, mein Liebling. Ich warte … warte … warte …« Keine Unterschrift. Nur ein nasser Fleck. Eine Träne.
    »Bitte kümmern Sie sich um Dunja –« sagte Pjetkin leise.
    Baranurian riß die Augen auf. An seinen Lidern und auf den Brauen hing Eis. »Wenn ich sie finde –«
    »Sie ist Oberärztin nebenan im Frauenlager I.«
    »Igor Antonowitsch, du verdammter Hund … du hast mich die ganze Zeit betrogen!« Baranurian schlug die Hände zusammen. Diese Eröffnung in der letzten Minute stieß ihn fast um. »Wie lange schon?«
    »Wir kamen mit dem gleichen Transport.«
    »Die Hölle soll aufbrechen! Ihr habt euch gesehen?«
    »Nie. Aber geschrieben.«
    »Wie kamen die Briefe hin und her?«
    »Erwarten Sie darauf eine Antwort?«
    Baranurian umarmte Pjetkin und küßte ihn auf beide Wangen. Der Stationsvorsteher pfiff.
    »Der Sohn des alten Pjetkin, daran erkennt man ihn! Leb wohl, mein Junge.«
    »Vergessen Sie Dunja nicht, bitte –«
    »Ich werde mein

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