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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Workuta besorgt. Es war dort das Modernste.« Pjetkin tat es gut, das zu sagen. »Wenn Sie mich vor einer Woche gesehen hätten, Genosse … da trug ich noch Stroh in den Schuhen, wenn ich das Haus verlassen mußte.«
    »Man ist eben kein Herr, wenn man in einem Besserungslager lebt«, antwortete der griesgrämige Genosse sauer.
    »Aber jetzt bin ich ein Herr?«
    »Jetzt sind Sie ein freier Mensch.«
    »Sagen Sie das noch einmal. Ganz langsam …«
    Der Mann mit dem Kneifer winkte ab. Sein Gesicht verzog sich, wenn er an Pjetkins Freiheit dachte.
    »Kaufen Sie sich im Kaufhaus GUM einen anständigen Anzug, einen leichten Mantel, vernünftige Wäsche, gute Schuhe. Die Rubel, die Berechtigungsscheine und die Namen der Abteilungsleiter von GUM, an die Sie sich wenden müssen, erhalten Sie auch in Zimmer 67. Wir werden bei GUM anrufen, daß man Ihnen alle Sachen bereitstellt. Noch etwas?«
    »Ich reklamiere meine Gehälter von Chelinograd bis heute«, sagte Pjetkin.
    Der Mann mit dem Kneifer riß den Mund auf, starrte Pjetkin an und holte tief Luft. »Sind Sie verrückt, Igor Antonowitsch?«
    »Fragen Sie den Genossen Starobin, ob mir die Gehälter zustehen?«
    »Natürlich steht Ihnen nichts zu. Gar nichts! Glauben Sie, wir bezahlen unsere Strafgefangenen?«
    »Ich habe als Arzt voll gearbeitet.«
    »Sie hätten auch im Steinbruch arbeiten können, Pjetkin!«
    »Fragen Sie Starobin.«
    Er ist da, dachte Pjetkin. Irgendwo hier sitzt er, verkriecht sich, vielleicht gleich nebenan. Er will sich nicht bedanken, und er will auch nicht, daß ich ihm sage, wie er mich überrascht hat. Njelep, der Häßliche … so groß unsere Gegnerschaft im Waisenhaus auch war, eines verband uns doch, bis heute und eigentlich für immer: Das Waisenhaus. Das gemeinsame Aufwachsen unter Komorows Erziehung. Wenn dieser Mann mit dem chronischen Schnupfen jetzt den Telefonhörer abhebt, ist Starobin im Haus.
    Er hob ihn ab. Wählte eine Nummer, wartete, sprach dann sehr devot und mit gekrümmtem Rücken. Hörte zu, was der andere antwortete, sah ein paarmal an die Decke, betrachtete Pjetkin mit den Kinderaugen eines Verblüfften und legte dann auf. »Sie erhalten drei Monatslöhne, Dr. Pjetkin. Auch in Zimmer 67.«
    »Na also. Leben wir nicht in einem gerechten Staat? Für jede Arbeit der nötige Lohn. Was sagte der Genosse Starobin sonst noch?«
    »Nichts.«
    Pjetkin lächelte schwach. Er war es also. Mein armer Jakow Andrejewitsch mit der Naht in der Lungenarterie, du hast Angst vor der Dankbarkeit. Eigentlich haben alle Russen irgendwie und irgendwo Angst. Ich auch. Uns steht die Seele bis zum Hals, und wir bemühen uns trotzdem ununterbrochen, kein Herz zu zeigen. Ist das die Lösung des Rätsels, warum wir mit dem Frühstückstee bereits den Minderwertigkeitskomplex gegenüber der westlichen Welt trinken? Dieses verfluchte Jahrhundertbild! Dieses Klischee, das über uns hängt wie Leim.
    Pjetkin sagte ›uns‹. Er dachte als Russe, er empfand als Russe, für ihn gab es nur Rußland. Und jetzt fuhr er für immer nach Deutschland.
    Der Mann mit dem Kneifer hatte noch eine Überraschung bereit, die Pjetkin in neue Konflikte stürzte. Mit dem Abholen aller nötigen Dinge in Zimmer 67 war es nicht getan. Moskau garnierte Pjetkins Abreise mit Eröffnungen und Wünschen.
    »Das war der technische Teil«, sagte der Genosse mit dem Dauerschnupfen, wühlte in seinen Papieren und fand anscheinend das richtige Blatt. Er glättete es mit den Handflächen, obgleich es faltenlos war, las die wenigen Zeilen und schob die Unterlippe vor.
    »Sie hießen einmal Hans Kramer, nicht wahr?«
    »Ja.« Pjetkin wurde vorsichtig. Die Vergangenheit kroch auf ihn zu.
    »Geboren in Königsberg?«
    »Das weiß man doch alles.«
    »Man weiß noch mehr.«
    »Noch mehr?«
    »Der Genosse Starobin hat angeordnet, daß man es Ihnen sagt, bevor Sie nach Deutschland kommen. Bis zur sowjetischen Grenze werden Sie Pjetkin heißen … dann werden Sie wieder Hans Kramer sein. Sie bekommen zwei Ausreisepapiere mit. Das sowjetische können Sie nach der Grenze vernichten, wie wir hier auch Ihre sowjetische Identität eliminieren. Ihren Paß, die amtlichen Karten, Ihre Zentralkarteikarte, alles … wir löschen Sie in Rußland aus. Es hat nie einen Igor Antonowitsch Pjetkin gegeben.«
    Pjetkin senkte den Kopf. Etwas Unerklärbares, Heißes, Betäubendes durchrann ihn. Es gibt keinen Pjetkin mehr. Ich bin nie gewesen. Ich habe nie einen Vater Anton Wassiljewitsch und nie eine Mutter

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