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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Irena Iwanowna gehabt. Zwanzig Jahre sind einfach nicht gewesen. Ich war ein Kind, ein Schüler, ein Student, ein Arzt, ein Mann … und bin trotzdem von diesem Augenblick an nichts!
    »Das ist unmöglich –«, sagte er heiser, kaum hörbar. Aber der Mann mit dem Kneifer hatte gute Ohren, sie tropften nicht wie seine Nase.
    »Und wie das möglich ist. Wir korrigieren nur einen Sachverhalt, der in den verwirrten Zeiten im und nach dem Krieg möglich war. Also – gospodin Kramer, fahren wir fort.«
    »Ich heiße Pjetkin!« schrie Pjetkin und sprang auf. Er zitterte am ganzen Körper. »Wo ist Starobin? Ich muß mit ihm sprechen! Er versteckt sich hinter den Gesetzen und weiß so gut wie ich, daß alles nur eine Wortartistik ist! Ich bin Russe. Russe! Und ich bleibe es! Auch in Deutschland!«
    »Das geht nun gar nicht. Sie haben selbst den Antrag gestellt, daß …«
    »Ich stelle ihn erneut und anders: Ich möchte als Russe nach Deutschland ausreisen können.«
    »Verrückt! Das ist absurd! Das ist Republikflucht … sie bringt Ihnen zwanzig Jahre Workuta ein! Gospodin Kramer –«
    »Pjetkin!« brüllte Pjetkin zurück.
    »… ausreisen können Sie nur als Deutscher. Das ist nun der Fall, und geändert wird nichts mehr. Glauben Sie, wir sitzen hier nur, um mit Verrückten wie Ihnen Karussell zu spielen? Und wenn Sie weiter zuhören, gospodin Kramer …«
    »Pjetkin!«
    »… werden Sie eine andere Meinung von Ihrem Deutschtum bekommen. Hier haben wir es schwarz auf weiß.« Er klopfte mit der geballten Faust auf das Blatt Papier. »Ihre Eltern heißen Peter Kramer und Elisabeth Kramer, geborene Reiners?«
    »Sie hießen so, ja. Für mich in grauer Vorzeit –«
    »Irrtum. Sie heißen so. Sie leben heute in Lemgo.«
    Pjetkin saß ganz still. Sein Kopf sank langsam tiefer und legte sich in beide Hände. Der Mann mit dem Kneifer wartete ein Weilchen. Mag sein, wie es will, dachte er. Pjetkin ist ein Spinner, aber ein wenig Mitleid ist jetzt angebracht. Er steht im Niemandsland. Rußland will ihn nicht mehr, Deutschland hat ihn nie vermißt, bis auf die beiden alten Leutchen, die da irgendwo in Westfalen sitzen und bis heute glauben, daß ihr kleiner Hans noch lebt.
    »Das Deutsche Rote Kreuz sucht Sie bis heute, gospodin Kramer. Hier haben wir eine Abschrift der Suchliste. Sie stehen an neunter Stelle. Ihre Eltern haben nie aufgegeben, an Ihr Leben zu glauben. Wir verfolgen das seit 1946.«
    »O Gott …«, sagte Pjetkin in seine Hände. »O Gott. Warum habt ihr mich als Kind nicht zurückgeschickt? Warum habt ihr mich zum Russen gemacht?«
    »Der Held des Volkes und des Großen Vaterländischen Krieges, Oberst Pjetkin, hatte Sie adoptiert. Die Sowjetunion bewilligte das, gewissermaßen als Geschenk an den großen Mann. Pjetkin liebte Sie wie seinen Sohn, Sie waren auch sein Sohn, aber Sie blieben Deutscher. Ich weiß, ich weiß, das klingt alles irr, ist jenseits aller Logik, der Mensch kann nur eines sein, und das ist bei Ihnen Deutscher. Wir haben die Völker nicht gemacht, die Grenzen, die Sprachen, die Eigenheiten. Im Gegenteil – wenn wir von Brüderlichkeit reden, von der Gleichheit aller Menschen, lacht man uns aus, nennt uns gefährlich, unterschiebt uns die Welteroberung. Das ganze menschliche Leben, wie es jetzt ist, wird zur Last durch seine Widernatürlichkeit. Je höher im Menschen die Intelligenz wächst, um so dämlicher wird er. Daran wird er eines Tages zugrunde gehen.« Der Genosse mit dem chronischen Schnupfen lächelte. »Ein kleiner philosophischer Ausflug. Meine Freizeitbeschäftigung.«
    »Wo liegt Lemgo?« Pjetkins Stimme klang zerbrochen, wie eingegittert hinter seinen Fingern.
    »Irgendwo im Lippischen, in Westfalen. Wenn Sie in Deutschland sind, kann Ihnen jeder sagen, wo Lemgo liegt. Aber die Familie Kramer ist nur der erste Teil, was uns interessiert.«
    »Haben Sie noch mehr Überraschungen in Ihren Papieren?« Pjetkin blickte auf. Sein bleiches Gesicht war zerfurcht wie mit Messerschnitten.
    Der Mann mit dem Kneifer nahm dieses Instrument schnell von der Nase und putzte es mit einem Taschentuch. Er hat gerötete Augen, dachte er. Pjetkin hat hinter seinen Händen geweint. Das ist nun wieder russisch … Gefühle müssen heraus, die Seele muß Platz haben, sonst ersticken wir. »Keine Überraschungen, sondern einen Wunsch, gospodin Kramer.«
    Igor Antonowitsch gab es auf, wieder Pjetkin zu brüllen. Er lehnte sich weit zurück und starrte an die Decke. Jahrelanger Tabakqualm hatte sie

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