Heiß wie der Steppenwind
nach einer Stunde Igor ins Wohnzimmer blickte, saßen Pjetkin und der Zwerg einträchtig zusammen auf dem Sofa.
»Morgen früh um sieben geht mein Zug, Vater«, sagte Igor leise. Schwer fiel ihm dieser Satz … er sprach ihn aus wie unter würgenden Fingern.
»Ich weiß Igoruschka.« Pjetkin tippte Marko auf die Glatze. Der Zwerg grinste breit. »Daß er mitfährt, beruhigt mich. Hast du alles gepackt?«
»Alles, Vater.«
*
Um sieben Uhr in der Frühe fauchte der Zug aus der Bahnhofshalle von Kischinew. Der weißgraue Qualm hüllte Pjetkin ein, ließ die Konturen seines Körpers zerfließen, zerhackte ihn in einzelne Stücke. Igor hing mit dem Oberkörper aus dem Fenster und winkte mit beiden Armen. Tränen standen ihm in den Augen, obwohl er sich gezwungen hatte, keine Trauer zu zeigen, sondern als fröhlicher Eroberer in das jungfräuliche Land zu fahren.
Nun war alles anders … Er sah seinen Vater im Dampf der Lokomotive stehen, in Paradeuniform, mit allen blinkenden Orden, er sah, wie er die Hand an die Mütze hob und seinen wegfahrenden Sohn grüßte. Wie aus Erz gegossen stand er da, ein Held, dem die Tränen aus den Augen tropften, ein unbeugsamer Verlierer, der das Liebste, das er besaß, von sich gerissen sah und diesem verdammten Schicksal nichts mehr entgegenzusetzen hatte als sein eigenes Denkmal. Igor winkte, bis eine Biegung der Schienen die Vergangenheit auslöschte.
Unterdessen war Marko nicht untätig gewesen, das heißt, er tat eigentlich nichts, als sich in die Tür des Abteils zu stellen und alle, die hineindrängten, anzulächeln. Das wirkte so abschreckend und abscheulich, daß jeder sofort sein Gepäck wieder an sich riß und eilig den Gang hinunterlief.
Igor schob das Fenster zu, lehnte sich zurück und legte beide Hände über die brennenden Augen.
Marko rumorte herum, verstaute das Gepäck in die Netze. »Wollen Sie etwas Tee trinken?« fragte er.
»Danke, Marko. Nein.« Igor wandte den Kopf zum Fenster. Die grünen Hügel von Kischinew flogen vorüber, vergoldet in der Morgensonne und umweht von schleierhaftem Bodennebel.
»Wie lange werden wir fahren?«
»Wenn es gutgeht, eine Woche … Es ist aber nicht sicher, ob wir immer die Anschlüsse bekommen. Ganz schlimm soll es in Taschkent sein …«
»Welche Entfernungen.« Igor Antonowitsch hielt den Becher fest, während Marko Tee eingoß. Igor hatte zwar abgelehnt zu trinken, aber Marko ignorierte das. »Welch ein Weg dorthin …«
»Und welch ein Weg zurück!« sagte Marko und winkte Igor, er solle trinken. »Auch daran muß man denken …«
A CHTES K APITEL
Niemand holte sie ab – niemand erwartete sie auch. In Chabarowsk, wo sich Igor bei der Medizinverwaltung meldete, wußte man überhaupt nicht, daß ein junger Arzt zugewiesen worden war.
»Sie haben den schriftlichen Befehl, Genosse«, sagte der Verwaltungsbeamte entgeistert und reichte den Brief zurück, »also muß es stimmen. Über Befehle soll man nicht nachdenken. Sie haben das Richtige gemacht – Sie sind gekommen. Glauben Sie nicht, daß wir Sie jetzt in die Ecke stellen und warm halten … es gibt genug bei uns zu tun. Die ärztliche Versorgung des Amurgebietes ist katastrophal. Ein Arzt kontrolliert ein Gebiet so groß wie eine ganze Provinz.« Er suchte in einer Kartei, zog ein großes Blatt heraus und las die Eintragungen durch.
»Blagowjeschtschensk«, murmelte er dabei. »Wenn es nicht zu dumm wäre, sollten wir jetzt zusammen weinen. Ein Straflager. Man braucht dort einen Assistenten, tatsächlich. Der letzte starb an Typhus, und auch nur deshalb, weil der dumme Mensch das Wasser trinken wollte, das die Häftlinge saufen.« Er warf die Karte auf den Tisch und betrachtete Igor, als wolle er ihn verkaufen.
»Der Lagerarzt ist eine Frau«, sagte er dann. »Marianka Jefimowna Dussowa. Mein Beileid, Genosse.«
»Sie wird mich nicht fressen«, lachte Igor.
»Sie kennen Marianka noch nicht. Ihr Ruf fällt Bäume schneller als eine Axt. Wer nur noch mit dem Hintern zucken kann, ist bei ihr noch arbeitsfähig. Ihr Lager hat den geringsten Verbrauch an Verbänden und Medikamenten. Ich nehme an, Sie haben als junger Arzt noch medizinische Ideale. Ich möchte Sie beweinen, Genosse … ausgerechnet zu Marianka steckt man Sie! Aber man soll über Befehle wirklich nicht nachdenken.«
Igor erreichte bei der Verwaltung in Chabarowsk, daß Marko Godunow ebenfalls eine Arbeitserlaubnis erhielt.
»Wird das eine Freude bei Marianka geben!« schrie der Beamte, nachdem
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