Heiß wie der Steppenwind
Versammlungssaal zur Schulung und Umerziehung, ein Badehaus – und als einziges aus gelben Ziegeln gebaut mit einem roten Schindeldach – das Krankenhaus und der Strafbunker. Man nannte ihn vornehm den ›Isolierzellen-Block‹ … eine Hölle innerhalb der Hölle. Ganz im Hintergrund des Lagers, getrennt von allen anderen Baulichkeiten, noch einmal besonders mit einem dichten Stacheldrahtzaun umgeben, standen die Quarantäne-Baracken. Hier wurden alle Neueinlieferungen einundzwanzig Tage lang festgehalten, gebadet, untersucht, entlaust, beobachtet auf ansteckende Krankheiten oder andere Gebrechen. In einundzwanzig Tagen zeigt jeder Körper, was er zu verbergen hat.
Igor entdeckte schon von weitem, daß in der Wachbaracke ihr Kommen signalisiert war. Wächter in erdbraunen Uniformen und schief sitzenden Käppis auf den kurzgeschorenen Haaren liefen ein paar Meter vor dem Stacheldrahtzaun hin und her und hoben wie auf ein Kommando die Maschinenpistolen an die Brust.
»Stoj!« schrien sie, als Igor und Marko ruhig weitergingen. »Stoj! Oder wir schießen!«
»Bleiben wir stehen«, sagte Marko und stellte das Gepäck auf den staubigen Boden. »Es ist nicht gut, sie zu reizen.«
Sie blieben stehen, und die Soldaten liefen ihnen entgegen. In einem Kreis umringten sie Igor und Marko und starrten sie finster an. Der Posten mit der lautesten Stimme betrachtete zuerst Marko und schüttelte dann den Kopf.
»Können Sie nicht lesen?« schrie er Igor an. »Oder liefern Sie zu Demonstrationszwecken eine Riesenwanze ab?«
Marko zog die Schultern hoch. »Ich werde mir das Bürschchen merken«, sagte er leise. »Wenn er jemals in das Krankenhaus kommt, werde ich ihm eine Spritze geben, und wenn's mich hundert Rubel Bestechung kostet.«
»Ich bin Dr. Pjetkin«, sagte Igor laut. »Abkommandiert als neuer Arzt.«
Der Korporal war unbeeindruckt. Er schob nur seine breite Hand vor.
»Papiere? Marschbefehl? Einweisung?«
Igor reichte die Schriftstücke hinüber. Erst, als der Korporal sie studiert hatte, wurde er freundlicher. Er faltete sie zusammen, steckte sie in seine Uniformtasche und warf die Maschinenpistole an dem Lederriemen über die Schulter.
»Kommen Sie mit, Genosse«, sagte er in normalem Ton. »Ich werde Sie anmelden bei der Lagerleitung.«
Igor und Marko wurden in die Wachbaracke geführt, in ein leeres Zimmer ohne Fenster. Eine Glühbirne hing traurig von der Decke und erhellte spärlich den Raum.
»Warten Sie hier«, sagte der Korporal, verließ das Zimmer und schloß es ab.
»Sie trauen uns nicht«, sagte Marko und setzte sich auf Igors großen Kleidersack. »Ein bißchen idiotisch, meine ich. Wer kommt schon freiwillig hierher?«
Sie warteten über eine halbe Stunde, rauchten dabei eine Zigarette und schraken zusammen, als ganz plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Ein Offizier des KGB trat ein und musterte Igor unverhohlen. In den Händen hielt er die Papiere aus Chabarowsk.
»Wir haben keine Ahnung, daß Sie kommen, Igor Antonowitsch«, sagte der Offizier. »Eine Schweinerei ist das. Eine Schlamperei! Seit einem Jahr fordern wir nun einen Arzt an, um die Genossin Dussowa zu entlasten … und jetzt kommt endlich einer, und niemand weiß etwas davon. Schlafen die Genossen in der Stadt?«
»Überlastet sind sie«, sagte Igor. Er dachte an den Beamten der Gesundheitsabteilung und an dessen Beschreibung der Dussowa. »Ich wette mit Ihnen, daß in einer Woche meine Zuweisung vorliegt. Genügt Ihnen nicht der Marschbefehl?«
»Natürlich, Genosse Pjetkin. Glücklich sind wir, Sie endlich zu haben! Stellen Sie sich vor … dreitausend Lagerinsassen, ohne die Wachmannschaften, davon eintausend Kriminelle und zweitausend 58er. Und nur ein Arzt! Man kann über die Halunken denken wie man will … ärztlich versorgt muß der größte Lump werden. Das ist Humanität.«
»Wer sind die 58er?« fragte Igor ratlos.
»Die Politischen, mein Lieber. Verurteilt nach Paragraph 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches. Die Meckerer und Unzufriedenen, Konterrevolutionäre und Volksschädlinge, Spione und Saboteure, Terroristen und Konspiranten … der ganze Abschaum also.« Der KGB-Offizier zog das Kinn an und betrachtete Marko mit einem deutlichen Anflug von Ekel. »Himmel, wer ist das?«
Marko schnaufte durch die breite Nase, was wie ein Raubtierzischen klang. »Meine Papiere«, sagte er und reichte seine Ausweise hin. »Ich bin Fachmann für Leichen …«
»Was ist er?« Der Offizier riß Marko die Papiere aus der
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