Heiß wie der Steppenwind
Duschowskij setzte seine schmutzige Mütze wieder auf. »Ich will es versuchen, Doktor. Morgen früh. Wenn mich der Obmann nicht zusammentritt. Sie müssen wissen … jede Baracke hat ihren Obmann, ein Oberteufelchen unter lauter Teufeln. Nur Kriminelle. Sie bilden die Oberschicht im Lager … wir Politischen sind Abfall, Kloakeninhalt. Sie werden es noch sehen … wohin Sie kommen, in der Küche, im Magazin, in der Bäckerei, in den Werkstätten, in der internen Lagerselbstverwaltung, im Krankenhaus, überall nur Kriminelle, Diebe, Räuber, Homosexuelle, Notzüchter, Fälscher, Zuhälter, sogar Mörder und Totschläger. Mein Obmann ist ein Straßenräuber gewesen. – Bis morgen, junger Freund. Ich will's versuchen …«
In Gedanken ging Igor weiter. So ist das hier, dachte er. Brauchen sie einen Arzt für die Beschleunigung des Todes? Einer, der selektiert, statt zu heilen? Der Baracken durchkämmt und Kranke zu Arbeitsfähigen stempelt?! Und dafür habt ihr einen Pjetkin ausgesucht? Welch ein Fehlgriff, Genossen …
Sie betraten das Krankenhaus und prallten gleich in der Eingangsdiele auf einen Häftling, der einen anderen vor sich hertrieb und ihm eine mit Kot beschmutzte Unterhose um den Kopf schlug. Der Geschlagene wimmerte und rannte im Kreis herum.
Igor hielt den Mann mit der Unterhose fest und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Häftling machte große Augen und wollte sich abstoßen, aber Marko war schon bei ihm und stieß ihm seine Faust blitzschnell in den Magen. »Sei ganz friedlich, Brüderchen«, sagte er danach. »Willst du, daß meine Faust hinten wieder rauskommt?«
»Er hat die Hose vollgeschissen!« keuchte der Häftling. »Das dritte Mal. Ein Schwein ist er, eine stinkende Sau!«
»Brechdurchfall habe ich!« schrie der Geschlagene. Er fiel auf die Knie und weinte plötzlich. »Was kann ich dafür? Warum bestraft man mich? Ich will es doch nicht, aber es kommt eben …«
»Leg dich ins Bett«, sagte Igor und hob den Weinenden vom Boden. »Wo liegst du?«
»Zimmer vier. Aber sie lassen mich ja nicht liegen. Sie jagen mich immer wieder hinaus. Weil ich stinke! Kann ich denn dafür? Kann ich es ändern?«
»Gehen wir.« Igor packte den einen Häftling am Kragen und sah erst jetzt, daß er eine weiße Leinenjacke trug, zwar voller Flecken, aber doch weiß und ein deutlicher Unterschied zu den anderen Sträflingskleidern.
»Ich bin der neue Arzt«, sagte er zu dem Mann, der ihn aus böse funkelnden Augen anstarrte. »Pjetkin heiße ich! Vergißt du's auch nicht? P-j-e-t-k-i-n …« und bei jedem Buchstaben gab er ihm eine kräftige Ohrfeige, daß der Kopf hin und her pendelte wie auf einer Spirale. Dann packte er ihn wieder am Kragen und schüttelte ihn. »Dr. Dussowa?« schrie Igor. »Wo ist sie?«
»Zimmer eins links, Dr. Pjetkin«, stammelte der Sträfling. Er wehrte sich nicht, als Igor ihn vor sich herschob und als ersten in Zimmer 1 stieß. Mit rotem, geschwollenem Gesicht taumelte der Häftling gegen einen Schrank und blieb dort mit hängendem Kopf stehen. Noch bevor Igor eintreten konnte, hörte er eine Stimme, die Stimme der Dussowa. Eine helle, schneidende Frauenstimme, ein Ton wie aus angeschlagenem Glas.
»Russlan! Bist du verrückt? Wie siehst du denn aus? Was ist draußen los?«
»Ich bin gekommen, Genossin –«, sagte Igor laut. Er stieß die Tür weit auf und trat ein. Marko folgte ihm, seiner Wirkung auf Frauen bewußt. Sie wird gleich stumm sein, frohlockte er, stumm wie ein Maulwurf. Aber er irrte sich. Hinter dem Tisch, der mit Papieren übersät war, saß ein Weib von erschreckender animalischer Schönheit. Ein Wald pechschwarzer Haare umgab einen runden Kopf, in dem die Backenknochen weit vorstachen und die tatarischen Augen glühten. Als sie aufsprang, war sie mittelgroß, kräftig gebaut, mit vollen Brüsten über einer schlanken Taille. Sie trug eine dunkelblaue Bluse, zu eng für ihre Brust, und einen gelben Rock, der die Hüften umspannte wie eine Umarmung. An den Beinen glänzten schwarze, weiche Stiefel, die gefürchteten Stiefel der Dussowa, die geputzt wurden wie ein Juwel und deren kleinste Ritze sie nach Dreck kontrollierte, jeden Morgen, ehe sie sie anzog. Fand sie irgendwo einen Spritzer Schmutz, rief sie Russlan herbei und ließ den Häftling, der die Stiefel geputzt hatte, auspeitschen. Ihre Hände, erstaunlich lang und schmal, waren weiß wie ihre ganze Haut, jenes porzellane Weiß, das man nur in Asien findet. Eine Haut, durchsichtig wie eine
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