Heiß wie der Steppenwind
Widerstand.
»Wo er hingehört laut Anweisung«, antwortete Igor furchtlos. »Man hat ihn weggeworfen wie einen geplatzten Sack. Russlan ist dabei, ihn als Menschen zu behandeln.«
»Russlan! Hierher!« schrie die Dussowa.
»Bleib in der Kammer, oder ich schlage dir den Schädel ein!« schrie Igor zurück.
Was soll man tun? Russlan entschied sich, taub zu sein. Er setzte sich neben den Erschossenen auf den Boden und hielt sich die Ohren zu. Sollen sie sich zerreißen, dachte er. Stückweise. Ich habe es gleich geahnt, als er ins Haus kam. Das ist kein Mann, der den Kopf einzieht, wenn die Dussowa faucht. Der wird nicht bleich wie ein Gänsefederchen, wenn sie mit dem Zeigefinger winkt.
»Er bleibt, wo er ist, der gute Russlan«, sagte Igor und baute sich vor der Tür von Zimmer 20 auf. »Ein dummer Mensch wäre er, wenn er's nicht täte.«
»Gehen Sie weg!« Marianka senkte den Kopf. Ihre schwarzen Augen schleuderten Feuer über ihn. »Geben Sie die Tür frei, Dr. Pjetkin! Ich brauche jetzt den Anblick eines Toten wie drei große Gläser Wodka.«
»Sie werden sich eine Stunde später sattsehen können, Marianka Jefimowna. Ich lasse ihn aufbahren.«
»Eine Wanze? Ein Dreckstück? Einen Hautsack voll Knochen und Eingeweiden?«
»Es war Professor Stepan Iwanowitsch Duschowskij. Er sollte sich morgen früh krank melden und zu mir kommen. Aber er hatte Angst. Angst vor dem Obmann, Angst vor einer Ärztin, Angst vor allem, was ihn umgab. Da rannte er in den Todesstreifen, um endlich Ruhe zu haben. Er wußte, daß die Ärztin ihn am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus jagen würde. Arbeitsfähig! Mit einem Herzen, das kaum noch schlagen konnte. Eine Ärztin, die wie wir Ärzte alle bei der Überreichung ihres Diploms geschworen hatte, allen Menschen zu helfen. Darum wird Duschowskij nachher im Eingang stehen, und ich werde der erste sein, der ihm Blumen bringt.«
Die Dussowa schwieg verbissen. Mit einem Kopfnicken jagte sie die Wachsoldaten weg … sie wendeten zackig und marschierten ab. Mit jedem Schritt wuchs ihre Erleichterung.
Igor Antonowitsch gab die Tür frei. Er trat zur Seite. »Sehen Sie sich Ihren Toten an«, sagte er verächtlich. »Wenn er Sie beruhigt, hat wenigstens sein Sterben noch einen Sinn gehabt.«
Die Dussowa hob die Schultern. Ganz hoch zog sie sie, als wolle sie den herrlich wilden Kopf dazwischen versenken. »Ich könnte um Sie weinen, Pjetkin«, sagte sie leise. »Sie besitzen eine geniale Gabe, Ihr Leben zu verkürzen …«
*
Niemand im Lager sprach über diesen Vorfall. Es war, als sei nie etwas Ungewöhnliches geschehen. Zwar lag der tote Professor Duschowskij den ganzen Tag im Eingang des Krankenhauses, aufgebahrt auf drei Brettern, die man auf zwei Kisten gelegt hatte, aber man beachtete ihn nicht. Nicht offiziell. Um so verwunderlicher war es, daß die Blumen um ihn herum immer mehr wurden. Auch war der Publikumsverkehr im Krankenhaus stärker als sonst … noch nie hatte es so viele Fragen nach einem Pülverchen oder einem Tablettchen gegeben wie an diesem Tag. Russlan und zwei andere Sanitäter, später auch Marko, der Zwerg, hörten sich viele dämliche Klagen an, warfen die meisten Bittsteller hinaus, aber das wollten sie ja bloß. Während sie an dem aufgebahrten Professor vorbeigingen, schoben sie schnell ein Blümchen aus der Tasche und ließen es fallen. Blitzschnell geschah das, und Marko, der sie beobachtete, hatte seine Freude daran.
Marianka Dussowa kam nicht aus ihrem Zimmer. Die morgendliche Untersuchung übernahm zum erstenmal Dr. Pjetkin, und zum erstenmal waren 70 Prozent aller Krankmeldungen auch wirklich krank. Marko verteilte die Glücklichen auf die Zimmer und Säle, und es zeigte sich, daß das Krankenhaus zu klein war. Die Kranken lagen auf dem Boden zwischen den Betten, im Gang, auf und unter den Tischen.
»Das gibt Ärger«, prophezeite Godunow. »Soll ich unser Gepäck zusammensuchen? Wir werden hier nicht alt werden, Söhnchen.«
Am Abend wurde Professor Duschowskij begraben. Bis dahin kannte ihn jeder im Lager. Die Offiziere, die Verwaltungsbeamten, die Wachsoldaten, die Bäcker, Schneider, Köche, Wäscher, die Natschalniks, die Obmänner und eine Abordnung der Kriminellen im Lager. Sie kamen als Spähtrupp. Bisher waren die Kriminellen die Herrschenden im Lager gewesen. Sie besetzten die Schlüsselpositionen, leckten den Speichel der Vorgesetzten und schlugen die Politischen. Sollte das jetzt anders werden? Seit Jahrhunderten war es Tradition,
Weitere Kostenlose Bücher