Heiß wie der Steppenwind
daß die Kriminellen die bevorzugte Oberschicht in den Lagern spielte, bei den Zaren wie bei den Bolschewisten.
Die Abordnung der Blatnyje besichtigte den aufgebahrten Toten, geriet beim Anblick der vielen Blumen und der damit bekundeten Sympathie in Panik und ließ sich bei der Dussowa melden. Aber die empfing sie nicht. Dafür bespuckte Marko die beiden Blatnyje, die keine Ruhe gaben und immer wieder nach der Dussowa fragten, schlug ihre Köpfe gegeneinander, als sie frech wurden und ihn einen lahmen Krebs nannten, zwang sie, vor dem Toten strammzustehen und jagte sie dann mit einem Lederriemen aus dem Krankenhaus.
In der Verwaltungsbaracke, in der Küche, der Bäckerei und im Offizierskasino wurden Wetten abgeschlossen. Wie lange bleibt Dr. Pjetkin im Lager? Wann wird die Dussowa ihn fressen? Wann holt man ihn ab, wird er selbst ein Sträfling?
»Ich weiß, daß Marianka einen heißen Draht nach Moskau hat«, sagte der Lagerverwalter ganz geheimnisvoll. »Niemand ahnt, wie oft sie mit Moskau telefoniert … aber es summiert sich. Ich muß es ja schließlich wissen … durch meine Vermittlung laufen alle Ferngespräche. Ich wette zehn Rubel gegen zehn Schläge auf die Backe, daß Pjetkin keine vier Wochen alt wird.«
Und der Kommandant der Truppen sagte: »Er ist ein Idealist. Das ist immer idiotisch. Soll ein so sympathischer Mensch in sein Verderben rennen? Genossen, wir müssen ihm zureden. Was er an diesem einen Tag bereits angestellt hat, kann ihm die Dussowa nicht in hundert Jahren verzeihen.«
Wie's auch sei … welches Ansehen er im Lager verbreitet hatte, merkte Pjetkin, als er seine erste Inspektion unternahm. Mit bleichem Gesicht kehrte er zum Krankenhaus zurück. Er hatte mit über hundert Häftlingen gesprochen, sie waren ihm nachgeschlichen, hatten ihm aufgelauert, seine Beine umklammert und seine Stiefel geküßt. »Helfen Sie uns!« hörte er hundertmal. »Sie betrügen uns alle. Mit dem Essen, dem Wasser, der Festsetzung des Arbeitssolls, mit allem. Seien Sie ein Mensch, Genosse Doktor. Nur ein Mensch. Wir glauben an Sie!« Und in der engen Zelle des Strafbunkers, in völliger Dunkelheit sitzend, eingekreist von seinen eigenen Exkrementen, umarmte ihn ein Priester und segnete ihn. Pjetkin ordnete seine sofortige Überführung in das Krankenhaus an.
Die Dussowa, auch an diesem zweiten Tag unsichtbar, verzog spöttisch den Mund, als Pjetkin am Nachmittag zu ihr ins Zimmer kam. Er hatte kurz angeklopft, und als er keine Antwort erhielt, war er einfach eingetreten. Marianka saß in ihrem Flechtsessel, die Beine mit den langen, blanken Stiefeln auf dem Schreibtisch. Sie las in einer Illustrierten und rauchte eine Papyrossa.
»Der Hase und der Igel«, sagte sie. »Ich bin noch da, aber Ihnen hängt die Zunge schon aus dem Hals. Sind Sie jetzt klüger?«
»Das Lager ist in einem erbärmlichen Zustand.«
»Ich weiß das. Jeder weiß das. Ein Sanatorium auf der Krim ist besser eingerichtet. Sie sollten Badearzt werden, Pjetkin.«
»Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Zwei Paraschas – (das sind Abortkübel aus Blech) – für 130 Personen! Die Brühe läuft durch die Gänge. Warum baut man nicht an jede Baracke einen Abort? Platz genug ist da, das Holz wächst vor der Tür.«
»Fragen Sie in Moskau an, Pjetkin. Wenn Sie eine Antwort erhalten, rufe ich Sie zum Heiligen aus.«
»Ich werde an die Zentralverwaltung schreiben.«
»Es ist bereits geschehen.« Die Dussowa schob mit der Stiefelspitze ein Blatt Papier über die Tischplatte. Vorsichtig, als könne das Papier mit einer ätzenden Säure getränkt sein, nahm Pjetkin das Schreiben und überflog den Text. Seine Verwunderung wuchs mit jeder Zeile, er lehnte sich gegen die Tischkante und wich nicht aus, als Marianka ihn mit den Stiefelspitzen in die Seiten trat. Leicht, spielerisch, aufreizend, lockend. Als er den Brief auf den Tisch zurückwarf, leuchtete ihr Gesicht. »Na, mein Freund? Zufrieden?«
»Sie haben alles geschrieben, was ich auch melden wollte.«
»Sogar unter Ihrem Namen. Sie brauchen nur zu unterschreiben, und mit der nächsten Post geht es ab nach Moskau. Aber was dann? Willst du es genau wissen, mein schöner Junge? Schweigen. Unendliches Schweigen wie die trostlose Weite der Tundra. Und dann schreibst du ein zweitesmal, dreimal, viermal, fünfmal, zum Teufel, wenn du's kannst hundertmal, bis du einem Beamten in Moskau auf die Nerven fällst. Dann schicken sie eine Kommission, die geht durch das Lager, findet
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