Heiß wie der Steppenwind
dem Buchstaben K stand: Gesucht wird Hans Kramer. Jetzt 15 Jahre alt. Geboren in Königsberg. Seit der Eroberung der Stadt ist er verschollen. – Daneben war das Bild eines Jungen mit blonden Haaren. Ein süßes Kerlchen.«
In Pjetkin breitete sich eisige Kälte aus. Er lauschte nach innen, aber er hörte seinen Herzschlag nicht mehr. »Wer … wer hat die Anzeige aufgegeben?« fragte er tonlos.
»Seine Eltern. Peter Kramer und Elisabeth Kramer.«
»Sie haben überlebt?«
»Sie wohnen in Lemgo. Das liegt in Westfalen.«
»Man sollte Lemgo zerstören«, sagte Pjetkin dumpf. »Dem Erdboden gleichmachen. Warum haben Sie mir das nie mitgeteilt?«
»Wäre es Ihnen recht gewesen, Genosse?«
Pjetkin schüttelte müde den Kopf. Eine unendliche Traurigkeit saugte alle Kraft aus ihm. Er erhob sich, gab Scheremet die schlaffe Hand, sah Ronowskij an und ging hinaus, nach vorn gebeugt, ein uralter Mann, der die letzten Schritte zählt.
»Das hätten Sie sich sparen können«, sagte Ronowskij leise. »Ich wußte es seit Jahren und habe geschwiegen. Nun hat er seine Welt verloren. War das nötig?«
»Es schafft Klarheit, Genosse Marschall.« Scheremet klappte die Akte zu.
Ronowskij holte Pjetkin nicht mehr ein. Er war verschwunden, als der Marschall aus dem Zimmer kam.
»Wo ist er hin?« schrie Ronowskij. »Man darf ihn jetzt nicht allein lassen! Alarmiert die Kremlwache. Sie soll ihn festhalten, bis ich komme!«
So wenig Ronowskij noch in der Armee galt … dieses Wort wurde ausgeführt, die Kremlwachen an den öffentlichen Toren wurden verstärkt, der aus dem Kreml drängende Besucherstrom genau kontrolliert. Es gab keine Möglichkeit, daß Pjetkin ungesehen den Kreml verließ.
Er wollte es auch gar nicht. Mit gesenktem Kopf ging er durch die weiten Gartenanlagen, umkreiste die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale und die Blagowestschenski-Kathedrale, blickte hinauf zu der goldenen Zwiebel des Glockenturms Iwan Weliki und setzte sich dann ermattet auf den Betonsockel, auf den man die riesige Kanone ›Zar Puschka‹ montiert hatte. Hier saß er, ruhig und bescheiden, mit gesenktem Kopf, ließ die Besucher an sich vorüberströmen, hörte die Worte der Fremdenführer, erfuhr, daß die Kanone 39.000 kg wiegt und jede ihrer Kugeln 2.000 kg, daß Tschechow sie gegossen hatte im Jahre 1584 und daß nie ein Schuß aus ihr abgefeuert worden war, weil sie so schön und wertvoll war. Aber das interessierte ihn alles nicht, es waren Worte, die an ihm abglitten wie Wasser an einem gewachsten Tuch.
Sie leben, seine richtigen Eltern, dachte er nur. Sie suchen ihn, und eines Tages werden sie ihn mir wegnehmen, meinen Igorenka, mein Söhnchen, mein Herz, mein Leben. Ich werde ihn zur Bahn bringen müssen und nie mehr wiedersehen. Wer kann das ertragen? Habe ich nicht nur für ihn gelebt? Und nun sind sie aufgetaucht, aus dem Chaos des Unterganges, leben in dem fernen Lemgo und suchen ihn. Bleibst du bei mir, Igoruschka, wenn du das erfährst? Wirst du dein Väterchen verlassen? Es wird dich zerreißen, ich weiß es … aber auch mich zerreißt es und ich verblute … Weißt du denn, wie ich dich liebe, mein Söhnchen …?
Er stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf den Boden.
Am Abend, als der Kreml geschlossen wurde, saß er noch immer da. Die Patrouille, ein Unteroffizier und zwei Mann, blieben stehen und zögerten den Genossen Oberst anzusprechen. Dann wagten sie es doch und bekamen keine Antwort. Er war schon steif, als sie ihn wegtrugen zur Wache.
*
Oberst Anton Wassiljewitsch Pjetkin wurde in Kischinew begraben, neben seiner Frau Irena Iwanowna. Es war ein Staatsbegräbnis mit Musik, Fahnen, einer Ehrenkompanie, Reden, Gewehrsalven, Kränzen und Blumengebinden. Igor küßte noch einmal seinen Vater und sagte: »Ich danke dir für alles, Väterchen«, ehe der Deckel zugeschraubt wurde. Dann sank der Sarg ins Grab, die Fahnen wehten über dem Erdloch, ein Stabstrompeter blies den alten Kosakengruß. Dunja und Sadowjew umarmten Igor und stützten ihn, als er ans Grab trat und die letzte Blume auf den Deckel warf. Anna Sadowjewa saß auf einem wackeligen Stuhl, weinte laut und konnte vor Ergriffenheit keinen Schritt mehr gehen.
Die größte Überraschung geschah, als die meisten Trauergäste schon gegangen waren. In ihrer Kapitänsuniform, einen Trauerflor um den Ärmel, trat Marianka Dussowa ans Grab. Keiner hatte sie bis dahin gesehen – sie tauchte plötzlich auf, stand allein vor dem Sarg und warf einen großen
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