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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aus dem Weg und erwarteten die Rache der Blatnyje.
    Im Krankenhaus war es seltsam leer. Russlan saß im Sanitäterzimmer, las in einer Zeitung und stand nicht auf, als Pjetkin und Godunow eintraten.
    »Aha!« sagte Marko laut. »Ein Fall von Hirnlähmung. Genosse Doktor, wir hatten da in Kischinew auch so einen Fall. Völliger Stillstand der Denkfähigkeit. Da nahm der Professor seinen Hammer und klopfte aufs Hirn. Was soll man sagen? Der Patient machte einen Luftsprung und zitierte Puschkin.«
    Russlan fuhr herum, ließ die Zeitung fallen und wollte etwas Unflätiges schreien, aber Godunow ließ es gar nicht dazu kommen. Mit beiden Händen packte er Russlans Kopf, drückte ihn zusammen, daß es zu knirschen begann, schüttelte ihn wie eine Kokosnuß, als ob man das Gluckern der Nußmilch hören wolle und setzte dann den vor Entsetzen über so viel Kraft völlig Gelähmten auf den Stuhl zurück.
    »Wo sind die Kranken?« fragte Marko sanft.
    »Es haben sich kaum Kranke gemeldet«, antwortete Russlan mit vorquellenden Augen.
    »Hat die Genossin Dussowa wieder scharf selektiert?« fragte Pjetkin.
    »Nein.« Russlan schüttelte mühsam den Kopf. Ihm war, als sei sein Schädel um die Hälfte zusammengedrückt. »Es haben sich heute nur neun Kranke gemeldet.«
    Pjetkin verließ das Zimmer und ging hinüber zu Marianka Dussowa. Es war alles so, wie Marko angedeutet hatte: Die Ordnung im Lager löste sich wieder auf. Das Regiment der Kriminellen festigte sich wieder. Sogar die Kranken wagten nicht mehr, sich krank zu melden … sie schleppten sich mit den Arbeitskommandos hinaus.
    Ein bittersalziger Geschmack bildete sich in Pjetkins Mund. Kurz vor Mariankas Zimmertür blieb er stehen und war einen Augenblick überwältigt von dem Gedankenstrom, der ihn überspült hatte. Fünfzig Jahre Weltrevolution, fünfzig Jahre Vorbild einer neuen Welt, ein halbes Jahrhundert Umerziehung zu Menschenrecht und Menschenwürde … Plötzlich glaubte er nicht mehr daran, daß dies ein Einzelfall sei. Er nahm sich vor, die Dussowa zu fragen. Sie kannte mehr von diesen Dingen. Sie war, wie sie sagte, ein Deportiertenkind.
    Er klopfte an die Tür, wartete auf ihr kräftiges »Eintreten!« und kam ins Zimmer. Marianka Jefimowna saß vor einem Gestell mit Reagenzgläsern und hatte einige Blutproben gemacht. Das war neu.
    »Igor Antonowitsch … da sind Sie wieder!« sagte sie mit ihrer merkwürdig modulationsfähigen Stimme. Jetzt war sie dunkel und weich, ein Rauschen des Windes im Herbstlaub. Ihre Hände schoben sich zusammen, und zum erstenmal sah Pjetkin, daß sie schöne Finger hatte, gepflegt, die Nägel diskret rot lackiert. Er konnte sich nicht erinnern, das je bei ihr bemerkt zu haben. Sie hat sich erst jetzt die Nägel lackiert, dachte er. Bei Dunja hat sie's gesehen, und das ließ ihr keine Ruhe.
    »Ich danke Ihnen, Marianka Jefimowna«, sagte Pjetkin und streckte ihr die Hand hin. Sie legte ihre Finger hinein, und sie waren kalt und glatt. Betroffen sah er sie an.
    »Wofür?« fragte sie. »Daß ich die Kranken nicht wieder auf den Platz gestellt habe? Es lohnte sich nicht – es waren zu wenig.«
    »Sie standen am Grabe meines Vaters … Warum waren Sie sofort wieder verschwunden? Ich wollte Sie zu einer kleinen Totenfeier einladen.«
    »Die Zeit war zu knapp. Ich konnte mit einem Flugzeug unserer Luftwaffe fliegen. Mir blieben nur Minuten.« Ihre kalte Hand verkrampfte sich in seiner Hand. »Igorenka … ich habe die Versetzungspapiere …«
    »Ich weiß es. Nach Chelinograd.«
    »Du gehst nicht. Hörst du, du weigerst dich, dorthin zu gehen!« In ihrer Stimme klang die ergreifend animalische Angst aller Frauen vor dem Unabwendbaren. »Du fährst nicht!« schrie sie. »Ich habe in Moskau protestiert!«
    »Es wird nichts nützen, Marianka Jefimowna.«
    Sie weinte. Wirklich, sie weinte dicke, runde, kindliche Tränen, die über ihre zuckenden Wangen zum Mund liefen und zwischen den Lippen versickerten.
    »Die einen befehlen, die anderen werden befohlen. Daran wird sich nie etwas ändern. Jeder Mensch hat immer wieder einen über sich, der ihm sagt, was er zu tun hat. Jeder von uns wird programmiert, ist Teil eines Produktionsvorganges, wird kontrolliert, eingestellt, ausgerichtet und berichtigt. Automaten aus Haut, Muskeln, Knochen und Blut. Und funktioniert dieser Automat nicht mehr, zeigt er Fehler, spuckt er statt Schrauben Muttern aus, kommt er in die Werkstatt, wird auseinandergenommen, geölt, gereinigt, neu eingestellt …

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