Heiß wie der Steppenwind
Truppe, die man heute gar nicht mehr kennt. Sag, Söhnchen, was machst du in Moskau?«
»Ich führe einen neuen Nahkampf, Genosse Marschall!« Anton Wassiljewitsch entfaltete den Brief Igors.
Ronowskij setzte eine dicke Brille auf und blinzelte Pjetkin über den Rand zu.
»Man ist dabei, meinen Igor wie eine Wanze zu behandeln.«
»Igor. Das ist der Junge vom Friedhof? Dein Adoptivsohn? Er ist doch Arzt geworden.«
»Ein vorzüglicher Arzt. Jetzt will er heiraten … und plötzlich sagt man ihm, er sei nach wie vor Deutscher und dürfe nicht heiraten.« Pjetkin tippte gegen die Briefseite, die Ronowskij noch vor sich hielt, ohne zu lesen. »Lesen Sie, was er schreibt. Das Herz dreht sich einem um! Mein Sohn wird so behandelt! Nennt ihn einen Deutschen! Trägt er nicht meinen ehrlichen Namen, he? Ist er russischer Arzt? Väterchen, hat der Teufel allen Beamten ins Gehirn geschissen? Lesen Sie …«
Marschall Ronowskij las den Brief gründlich. Dann legte er ihn weg, klappte seine Brille zusammen und blickte über den Kopf Pjetkins an die Wand.
»Die Behörden haben recht, Söhnchen«, sagte er langsam. »Spring mir nicht ins Gesicht, aber Gesetze sind logische Gedanken, seelenlos, aber unwiderlegbar. Er ist in Königsberg geboren, hieß Hans Kramer, und das ist nicht wegzuwischen.«
»Dann hätte ich ihn nicht zu adoptieren brauchen!« schrie Pjetkin.
»Es hat dich auch keiner dazu gezwungen. Erinnere dich, was ich dir damals sagte. War's nicht vor Berlin?«
»In der Backstube einer Bäckerei, Genosse Marschall.«
»Richtig. Was habe ich gesagt: Sie mit Ihrem weichen Herzen! Sie werden die Quittung bekommen! Hier ist sie nun, Anton Wassiljewitsch … allerdings eine Rechnung des Gesetzes. Nun mußt du sie bezahlen. Igor Antonowitsch, dein Söhnchen, bleibt ein Deutscher. Du bist nur seine Amme gewesen. Willst du dagegen anstinken?«
»Eine Ausnahmegenehmigung, wenn es nicht anders geht.«
Oberst Pjetkin trank den Wodka, als sei es Fruchtsaft. Ebensowenig wie Igor begriff er die Gesetze und wehrte sich dagegen, fast ein Vierteljahrhundert für eine Illusion gelebt zu haben. Was nur möglich gewesen war, hatte er Igor zukommen lassen: Die beste Erziehung, die strengste Ausbildung, den reinsten Kommunismus. Wo gab es noch mehr Russen, die so vollkommen sowjetisch waren wie Igor Antonowitsch? Wenn noch etwas deutsch an ihm war, so das Geburtsdatum in den Akten. Ein paar Ziffern! Besteht der Mensch aus ein paar Ziffern?
»Versuchen wir es, Söhnchen«, sagte der alte Ronowskij. »Eine andere Generation regiert. Du hast es gesehen, als dein Igor nach Sibirien mußte. Nichts habe ich erreicht. Wir alten Frontkämpfer sind Fossile, weiter nichts. Aber bitte, versuchen wir es. Rennen wir herum. Zuerst zum Innenministerium. Das ist die wichtigste Stelle. Sie beharrt darauf, daß Igor ein Deutscher ist. Leider hat dieses Ministerium keinen Respekt vor einem Marschall!«
Ronowskijs dunkle Ahnung erfüllte sich … Das Innenministerium bewies Pjetkin, daß Igor Antonowitsch zwar sowjetischer Staatsbürger, aber dennoch ein Deutscher sei.
»Das ist ja schizophren!« schrie Pjetkin außer sich. Seit zwei Jahren hatte er Herzbeschwerden, nahm Tabletten und ließ sich jeden Monat den Blutdruck messen. Auch jetzt zuckte Pjetkins Herz, er schluckte eine Tablette und atmete tief durch. »Heiraten darf er nicht … aber sowjetische Bürger operieren, das darf er!«
Der Beamte, der Genosse Ministerialrat Scheremet, nickte zustimmend. »Das kann er. Vor einem Arzt ist jeder Mensch gleich. Das ist ja sein großer Vorteil, Genosse Oberst … als Arzt ist er international. Den Beruf eines Lehrers hätte er zum Beispiel nie ergreifen können … das hätten wir sofort unterbunden. Aber Medizin. Das ist die ganze Welt.«
»Große Worte! Phrasen!« brüllte Pjetkin. »Mein Sohn soll glücklich werden. In Rußland. Als Russe. Er liebt Dunja Dimitrowna, sie ist auch Ärztin, sie würden ein Team bilden, das dem sowjetischen Volke unendlichen Nutzen bringt. Genosse Scheremet … ein Federstrich nur, einmal kurz über das Papier gekratzt … machen Sie meinen Igor zu einem richtigen Russen!«
»Das haben wir sogar erwogen, Anton Wassiljewitsch.« Scheremet schlug ein Aktenstück auf, blätterte darin herum und fand die gesuchte Seite. Er räusperte sich. »Im Jahre 1953 waren wir bereit, Igor Antonowitsch in den Schoß unseres Volkes zu übernehmen. Da trafen bei uns die neuesten Suchlisten des Deutschen Roten Kreuzes ein. Unter
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